Maigret und die Tänzerin Arlette
Männer…«
»Ich war betrunken.«
»Und Sie haben das Ganze erfunden?«
»Ja.«
»Warum?«
»Das weiß ich nicht. Ich war nicht mehr ganz da. Ich hatte noch keine Lust, nach Hause zu gehen, und da bin ich einfach aufs Revier gegangen.«
Maigret musterte sie einen Augenblick neugierig und blickte dann wieder auf seine Papiere.
»Ist also nie von einer Gräfin die Rede gewesen?«
»Nein.«
»Überhaupt nicht?«
»Vielleicht habe ich was von einer Gräfin gehört. Man schnappt ja manchmal so ein Wort auf und wird’s dann nicht wieder los.«
»War das heute nacht?«
»Wahrscheinlich.«
»Und darauf haben Sie Ihre ganze Geschichte aufgebaut?«
»Wissen Sie immer alles, was Sie erzählen, wenn Sie getrunken haben?«
Maigret lächelte. Lucas schien verärgert.
»Sie wissen doch wohl, daß das ein Delikt ist?«
»Was?«
»Eine falsche Meldung zu machen. Sie können wegen falscher Anschuldigung verklagt werden.«
»Das ist mir egal. Ich will nichts weiter, als endlich schlafen gehen.«
»Wohnen Sie allein?«
»Was kümmert Sie das?«
Maigret lächelte wieder.
»Erinnern Sie sich nicht mehr an den Gast, mit dem Sie eine Flasche Champagner getrunken haben, der Ihre Hände hielt und Albert hieß?«
»Ich erinnere mich an fast nichts mehr. Soll ich am Ende noch eine Zeichnung von ihm machen? Im Picratt werden Sie von allen hören können, daß ich betrunken war.«
»Von wann an?«
»Von gestern abend an, wenn Sie’s genau wissen wollen.«
»Mit wem hatten Sie sich betrunken?«
»Ganz allein.«
»Wo?«
»Hier und dort. In allen möglichen Bars. Man merkt, Sie haben nie allein gelebt.« Diese Bemerkung wirkte besonders komisch, weil gerade der kleine Lucas es mit seinem Lebenswandel immer sehr genau nahm.
Es regnete den lieben langen Tag, ein kalter, eintöniger Regen. Die Wolken hingen tief über der Stadt, in allen Büros brannten die Lampen, und überall sah man feuchte Spuren auf den Fußböden.
Lucas war noch mit einem anderen Fall beschäftigt, mit einem Einbruchsdiebstahl in einem Lager am Quai de Javel, und beeilte sich, dorthin zu kommen. Er blickte Maigret fragend an.
»Was soll ich mit ihr machen?« war in seinem Blick zu lesen.
Da aber eben die Klingel zum Rapport läutete, zuckte Maigret nur die Schultern, was soviel hieß wie: »Das ist deine Sache.«
»Haben Sie Telefon?« fragte Lucas das Mädchen.
»In der Loge der Concierge ist Telefon.«
»Wohnen Sie möbliert?«
»Nein, ich habe eine eigene Wohnung.«
»Allein?«
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.«
»Haben Sie keine Angst, Oskar zu begegnen, wenn ich Sie gehen lasse?«
»Ich will nach Hause.«
Man konnte sie nicht eine Ewigkeit festhalten, bloß weil sie auf dem Revier ein Märchen erzählt hatte.
»Rufen Sie mich gleich an, wenn er wieder auftauchen sollte«, sagte Lucas, während er sich erhob. »Sie werden ja wohl die Stadt nicht verlassen wollen.«
»Nein. Warum auch?«
Er öffnete ihr die Tür und sah, wie sie durch den langen Flur ging und dann oben an der Treppe einen Augenblick zögernd stehenblieb. Die Leute drehten sich nach ihr um. Es war ihr anzusehen, daß sie aus einer anderen Welt kam, einer Welt, die nur in der Nacht zum Leben erwachte. Und in dem nüchternen Licht eines Wintertages wirkte sie in ihrer Aufmachung recht übernächtig.
Als er die Tür wieder hinter sich zugemacht hatte, schnupperte Lucas den Geruch, den das Mädchen hinterlassen. Es roch hier plötzlich seltsam nach Frau. Noch einmal rief er die polizeiliche Rettungsstelle an.
»Keine Gräfin?«
»Nein, nichts gemeldet.«
Dann öffnete er die Tür zum Büro der Inspektoren.
Ohne darauf zu achten, wer dort war, rief er: »Lapointe…«
Ein junger Inspektor antwortete: »Er ist eben fortgegangen.«
»Hat er nicht gesagt, wohin?«
»Nur, daß er gleich wiederkäme.«
»Sag ihm, ich brauche ihn dringend. Nicht wegen Arlette oder der Gräfin. Er soll mich nach Javel begleiten.«
Lapointe kam eine Viertelstunde später wieder. Die beiden Männer zogen ihre Mäntel an, setzten ihre Hüte auf und stiegen an der Station Châtelet in die Metro.
Als Maigret vom täglichen Rapport beim Chef zurückkam, setzte er sich vor einen Stoß Akten, zündete sich eine Pfeife an und nahm sich fest vor, den ganzen Morgen sein Zimmer nicht zu verlassen.
Ungefähr um halb zehn mußte Arlette die Kriminalpolizei verlassen haben. War sie mit der Metro oder dem Omnibus zur Rue Notre-Dame-de-Lorette zurückgefahren? Niemand hatte sich darüber
Weitere Kostenlose Bücher