Mailverkehr für Anfänger (German Edition)
Reue
Von: Gruber Bestattungen
Datum: 01.11.2012 08:57
Sehr geehrte Frau Zimmermann,
ich bin ein pragmatischer Mensch. Probleme sind dazu da, analysiert und wenn möglich, gelöst zu werden. Wenn nicht, muss man sich damit arrangieren.
Radikale Akzeptanz, das ist mein Motto.
Herbst- und Winterdepressionen sind ein weitverbreitetes Problem, für das es Lösungen gibt. Notfalls auch Antidepressiva.
Reue über ein nicht gelebtes Leben ist ein Problem, das nicht gelöst werden kann. Jedenfalls nicht auf dem Totenbett.
Im Rahmen meiner Tätigkeit habe ich nicht nur mit trauernden Hinterbliebenen zu tun, sondern unterhalte mich oft auch mit Sterbenden. Darüber, wie sie ihr Leben geführt haben, darüber, wie sie ihre Abschiednahme gestalten möchten. So wie mit Frau Stiller.
In ihren letzten Tagen auf Erden wünschen sich viele, dass sie weniger Zeit mit ihrer Arbeit und stattdessen mehr Zeit mit ihrer Familie und ihren Freunden verbracht hätten. Einige wünschen sich, sie hätten mehr Mut gehabt, über ihre Gefühle zu sprechen (und das waren nicht nur die Frauen).
Die meisten von ihnen jedoch, und das finde ich besonders traurig, hätten gerne ein Leben geführt, das mehr ihren eigenen Vorstellungen und Wünschen entsprochen hätte. Nicht dem, was die anderen von ihnen erwarteten.
Everybody’s Darling = Everybody’s Depp.
Frau Stiller hatte diesbezüglich keine Probleme.
Ich für meinen Teil habe ebenfalls keine Angst vor dem Zug. Mein Leben ist ausgefüllt. Es findet nicht nur zwischen Buchdeckeln statt, obwohl ich hin und wieder gerne lese, zum Beispiel Edgar Allan Poe. Der hat ganz richtig gesagt:
»Die ganze Religion, mein Freund, hat sich schlicht und einfach aus dem Betrug, der Angst, dem Vorteil, der Fantasie und aus der Poesie entwickelt.« Dem schließe ich mich vorbehaltlos an.
Führen Sie ein Leben, das Ihren Vorstellungen und Wünschen entspricht? Vielleicht ist es das, was Frau Stiller anmahnte, und nicht eine überschrittene Leihfrist …
Apropos Mahnung: Bitte zahlen Sie Ihre Rechnung.
Oder schreiben Sie.
Mit freundlichen Grüßen
Mike
Betrifft: Zitate
Von: H. Zimmermann
Datum: 02.11.2012 01:29
Sehr geehrter Herr Gruber,
immerhin, Sie lesen also. Auch auf Englisch?
Gut für Sie.
Wie finden Sie das? »The person, be it gentleman or lady, who has not pleasure in a good novel, must be intolerably stupid.« (Jane Austen) (Eine Person, sei es Mann oder Frau, die keine Freude hat an einem guten Roman, muss unerträglich dumm sein.)
Austen ist den Macho-Autoren, die Sie zu bevorzugen scheinen, weit überlegen, was den feinsinnigen Humor und die hervorragende Beobachtungsgabe für zwischenmenschliche Beziehungen angeht.
Nun, jedem das Seine.
»Ich verlange von den Leuten nicht, dass sie mir angenehm sind, weil es mich vor dem Problem bewahrt, sie zu mögen.« (dito)
Es ist gar nicht so schlimm, in Büchern zu leben. Gute Bücher öffnen Türen in Bereiche, die sonst verborgen bleiben würden. Und die wirklich guten lassen den Leser verändert zurück. Weil sie seinen Horizont erweitern, und vielleicht sogar das eine oder andere Vorurteil abbauen. Wer liest, schlüpft in fremde Köpfe, sieht fremde Welten und fühlt mit fremder Haut. Das kann genauso beglückend, erschreckend und wild sein wie eine »reale« Erfahrung.
Kann. Konnte.
So hat es mal funktioniert. Bei mir. Doch seit Birgits Tod gelingt es mir nicht mehr, zwischen die Buchstaben zu schlüpfen und das Leben hinter den Seiten zu finden. Meine Bücher bleiben tot. Die Schrift nur Hieroglyphen. Ein Zaun, an dessen schwarzem Maschendraht ich vergeblich rüttele.
Was nun? Hier drin gibt es keinen Ausweg mehr. Da draußen lauern die Zombies …
Und warum erzähle ich Ihnen das alles? Ich mag Sie nicht mal. Sie sind eingebildet, eitel und erteilen gerne ungebetene Ratschläge.
Vielleicht, weil Sie meine letzte Verbindung zu Birgit sind? Weil ich immer noch nicht kapiere, dass sie Ihnen Dinge anvertraut hat, die privat sind? Weil ich nicht glauben kann, dass sie tatsächlich ruhig und gelassen in den Tod ging?
Sie lesen garantiert keine Gedichte, stimmt’s? Dabei würden Ihnen die von Dylan Thomas sicher gefallen. Waliser. Alkoholiker und Schürzenjäger. Der hat sein Leben gelebt, auch wenn der Suff es erheblich verkürzte.
Bei ihm, da ging es nicht um »sanft entschlummern« oder »selig entschlafen«. Grässliche Euphemismen für den Exitus. Bei Dylan Thomas war von Zorn und Verzweiflung die Rede. Sehr ehrlich. Ich
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