Rabenmond - Der magische Bund
Der Fuchs
M ion wollte den Fuchs nicht töten.
Alles passierte so schnell: Im Handgemenge packte sie den Bogen, die Sehne schnellte ihr aus den Fingern und das Geschoss zischte los, bevor sie recht gezielt hatte. Pulverschnee stob von den Büschen auf, als der Fuchs fiel. Mion glaubte einen Schrei zu hören, der nicht nach einem Tier klang. Das Blut gefror ihr in den Adern. Dann war alles still.
Wie angewurzelt stand sie im Unterholz und starrte mit Saffa und Kajan auf die Stelle zwischen den mächtigen Zedern, wo der Fuchs zusammengebrochen war.
Saffa schlug ihr auf die Schulter und grinste bemüht. »Gut getroffen.«
»Ist er tot?« Zögernd trat Kajan einen Schritt vor. Schnee knirschte unter seinen Stiefeln, die er vorsorglich ein paar Größen zu groß geklaut hatte, wie fast alles, was er am Leib trug. Der Wald beobachtete die drei aus gefrorenen Tautropfenaugen.
Mion fasste sich, drückte Kajan den Bogen wieder in die Hand und ging auf die Bäume zu. Die beiden Jungen folgten ihr, bis sich Saffa vor sie drängte und die Führung übernahm. Das sah ihm ähnlich. Eben noch hatte er sich wie ein Kind mit Kajan gezankt, wer den Fuchs erschießen sollte, und jetzt, da Mion ihrem Herumdrucksen ein Ende gesetzt hatte, spielte Saffa wieder ganz den furchtlosen Anführer.
Grimmig stapfte sie hinter ihm her. Noch immer raste ihr Herz und ein dumpfer Schreck lähmte ihre Gedanken. Sie hatte getötet. Sie hatte ein Leben ausgelöscht... Natürlich waren auch davor schon Tiere gestorben, damit sie Ritus spielen konnte - mochten die Drachen wissen, wie viele Schnecken, Käfer, Grashüpfer und Regenwürmer sie auf dem Gewissen hatte, seit sie zum ersten Mal in den Genuss von Ritus gekommen war. Aber ein großes Tier... nein, das hatte sie sich noch nie getraut.
Und wenn sie den Fuchs nur verletzt hatte? Die Vorstellung war noch furchtbarer. Sie würde kein zweites Mal auf ihn schießen können - nicht wenn er hechelnd und blutend vor ihr lag. Sie schluckte. Was auch immer unter den Zedern wartete, sie war nicht sonderlich erpicht darauf, es zu finden.
Saffa blieb stehen und schob die Büsche zur Seite. Als Mion es sah, senkte sich ein Schleier pulsierenden Grauens über sie.
Unter den Büschen lag kein Fuchs.
Es war kein Tier.
Starr vor Entsetzen blickten die drei auf einen Jungen hinab.
Er war nicht älter als sie. Hellbraunes Haar umgab das schmale, blasse Gesicht. Seine Züge waren entspannt und verrieten weder Schmerz noch Schreck, höchstens eine nachdenkliche Besorgnis, wie ein Träumender in einem unruhigen Schlaf.
Mion bemerkte, dass der Pfeil nirgendwo in seinem Körper steckte. Sein weißer Umhang lag glatt und unbeschädigt über ihm wie eine samtige Schneedecke.
Sie spürte, wie sich ihr Mund öffnete, doch kein Ton kam hervor. Panik überfiel sie. Nein, das... das war doch unmöglich …
Aber schon bestätigte sich die Befürchtung. Die Hand des Jungen zuckte, die Finger schlossen sich zur Faust, er öffnete die Augen und sein Blick traf Mion. Für eine Sekunde sahen sie sich an. Die Welt verlor sich in Dunkelheit.
Seine Augen waren leuchtend wie Honig. Drei rotbraune Punkte tanzten im Gold der linken Iris wie winzige Blutstropfen.
Mit einem Schreckenslaut fuhr der Junge zurück und war plötzlich verschwunden. Ein riesiges, flatterndes Etwas ragte vor ihnen auf. Saffa und Kajan stießen Schreie aus, Mion taumelte zurück, ihre Knie gaben nach. Eine Schwalbe, größer als alle Vögel, die sie je gesehen hatte, erhob sich in die Luft. Das Tier schlug heftig mit den Flügeln, wirbelte Wolken von Schnee auf und verschwand im dämmrigen Himmel.
Sie rannten, so schnell sie konnten. Mions Herz überschlug sich vor Erleichterung, als sich der Wald lichtete und hinter den Hügeln die Umrisse ihrer Heimat auftauchten: Grau und schief wie Zahnstümpfe ragten die Ruinen aus dem Schnee. Hier und da schimmerte eine bunte Laterne, denn diese Nacht hatte das Fest der Wintersonnenwende stattgefunden. Jenseits der Armensiedlungen erhob sich majestätisch die Stadtmauer von Wynter, doch der Palast der Drachen war zu fern, um ihn zu erkennen. Mion achtete auch gar nicht auf die beeindruckende Landschaft. Sie brachen aus dem Unterholz und stolperten am Flussufer entlang, immer wieder über die Schultern zurückblickend. Aber die Wälder blieben finster und reglos hinter ihnen und spuckten keinen Verfolger aus.
In den Ruinen tanzten Menschen im Schein der Lampions. Zu ihren schmutzigen Gesichtern und ihren
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