Zirkus Mortale: Kriminalroman (German Edition)
Sonnabend, 23. Juli
Schon als junges Mädchen hatte sie
vom Tod etwas lernen wollen. Beinahe jeden Tag war sie in das Hospiz spaziert, hatte
die Hand Todgeweihter gehalten und in ihr Antlitz gesehen. Bleich, eingefallen,
manchmal von einem irren Leuchten durchstrahlt, hatten sie sie angeschaut, die Beinahe-Toten,
und sie hatte eine eigentümliche Kraft aus ihrem Blick gezogen. Ihr Händedruck war
kühl gewesen, und die Ausdünstung ihrer Körper hatte sie an den Lehm erinnert, den
sie in ihrer Kindheit geformt hatte: eckig und rund und manchmal auch oval.
Jetzt hatte
sie selbst den Tod vor Augen. Warum nicht, dachte Dele, warum nicht, und langsam
zog sie sich hinauf auf das Geländer der Brücke. Der Mann, der hinter ihr stand,
bewegte sich nicht, aber sie konnte den bohrenden Blick in ihrem Rücken spüren und
sie wusste, dass er sie keine Sekunde aus den Augen ließ. Wenn sie nicht freiwillig
sprang, würde er sie stoßen.
Ihre Arme
waren muskulös, die kurzen Beine trainiert, doch das würde ihr nicht helfen. Unter
ihr floss schnell, wie von unsichtbarer Hand getrieben, der Strom.
Sie hatte
alles verloren, ihre Heimat, das Kind, ihre Würde und nun gleich auch noch ihr Leben.
Ihre Füße balancierten auf dem schmalen Metall, das im Licht des Mondes silbern
glänzte. Plötzlich spürte sie seine Hand, dann einen Ruck, und schon begann der
Fall. Ein dunkler Wirbel rasender Augenblicke, die vor ihr zerbarsten. Tosend, mit
einem Knall.
Um sie herum ein Meer von Grün,
ihr Geist taumelte unter einer hohen Woge.
Plötzlich
war das Bild ganz klar, zum Greifen nah. Sie sah das Mädchen vor sich: Die dunklen
Augen, ihr zaghaftes Lächeln. Deles Brust wurde weit. In Zeitlupe kämpfte sie sich
an die Oberfläche, und auf einmal wurde es licht um sie herum. Sie konnte den Himmel
ahnen. Vögel zwitscherten, und sie spürte die warmen Strahlen der Sonne auf ihrer
Haut. Um sie herum tanzten Fische.
Plötzlich
zog es sie wieder nach unten, und sie verspürte nackte Angst. Todesangst. Jetzt
war da nur noch dieser Schemen, der sie auf den Grund zu ziehen schien. Je mehr
sie sich wehrte und je näher sie ihm kam, desto diabolischer starrte er sie an.
Sein Gesicht … eine Fratze. Die Arme … Tentakeln.
Das Piepen eines medizinischen Apparates,
das immer lauter wurde, drang an ihr Ohr, es dröhnte und tat weh. Plötzlich vernahm
sie einen leisen Ruf und mühsam öffnete sie die Augen. Gesichter beugten sich über
sie, jemand sprach sie aus weiter Ferne an. Sie konnte die Nervosität um sich herum
spüren und sie nahm leise Befehle wahr. Irgendjemand gab ihr eine Spritze. Ihr Körper
spannte sich vor Anstrengung, sie wollte etwas sagen, doch so sehr sie sich auch
darum bemühte, kein Wort kam über ihre Lippen.
Mittwoch, 29. Juni desselben Jahres
Die Sonne stand im Westen und goss
goldenes Licht über den See. Kriminalhauptkommissar Marko Rössner ging mit entschlossenen
Schritten den Waldweg entlang, irgendwo über ihm in den Bäumen summten Bienen. Kein
Lufthauch regte sich. Sein Hemd klebte auf der Brust, seit Tagen schon ächzte die
Stadt unter der Hitze. Er hatte seinen Wagen auf einem der Waldparkplätze abgestellt,
froh, noch ein wenig allein sein zu können und die Gedanken zu sammeln, bevor er
auf die Kollegen traf. Als er die Biegung des Weges hinter sich gelassen hatte,
tauchte ein Pulk von Menschen auf. Es waren wie erwartet die Beamten des ersten
Einsatztrupps, auch Kollegen von der Spurensicherung, die eifrig hin und her wuselten,
und an ihren kupferfarbenen Haaren erkannte er die Staatsanwältin. Hinter den rotweißen
Absperrbändern, die bewegungslos zwischen den Pfosten hingen, reckten einige Neugierige
die Köpfe. Polizeiwagen und ein Leichenwagen standen herum, das ganze Equipment,
das bei einem Leichenfund zur Stelle war. Eigentlich hatte er heute endlich einmal
früher Feierabend machen wollen, doch ein Blick auf sein Handy machte ihm klar,
dass daraus nichts werden würde.
Rössner
registrierte, dass jemand von der Spurensicherung Bodenproben nahm, ein anderer
klaubte etwas auf und steckte es in einen Plastikbeutel.
»Was Interessantes
gefunden?«, rief er hinüber.
»Zigarettenkippen
und Kaugummi, aber davon gibt es hier mehr als genug«, kam die Antwort, und Rössner
nickte. Es war Sommer, und am Decksteiner Weiher waren um diese Zeit viele
Menschen unterwegs.
Er dachte
an die unterschiedlichen Leichenfundorte, die er im Laufe seiner Tätigkeit als Kriminalhauptkommissar
in Köln
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