Make new Memory oder wie ich von vorn begann (German Edition)
ich weiter.
„ Was willst du denn jetzt in Frankreich? Morgen ist Schule!“
„ Und dann mit der Fähre rüber.“
„ Wir fahren ins Sauerland. Ist doch auch schön.“
„ Mit einem Flugzeug ginge das ganz schnell.“
„ Das können wir uns nicht leisten. Da hast du dir die falsche Familie ausgesucht!“
„ Man sucht sich seine Familie nicht aus“, erwidere ich gedankenverloren.
Sie schaut gekränkt und beginnt, den Tisch abzuräumen. Ich bin verwirrt.
Mein Vater kommt herein. Sein Blick ist getrübt und er riecht nach Kneipe.
„ Wo warst du?“, frage ich.
„ Lotto wegbringen“, sagt er.
„ Dein jüngster Sohn hätte gern eine andere Familie“, verkündet meine Mutter ihr Fazit unseres Gespräches, während sie vor dem Schrank in die Hocke geht, und die Marmelade einräumt.
„ Mmh“, erwidert mein Vater und verlässt die Küche.
Was ist denn hier los?
Montagabend geht meine Mutter zum Turnen. Es ist, solange ich denken kann, der einzige Abend, an dem sie ohne meinen Vater weggeht. Im Fernsehen läuft der Heimatfilm
Wo die alten Wälder rauschen
. Der böse Herr Rehm kümmert sich nicht um seinen Sohn, den kleinen Nils. Wie traurig. Da rauscht mir das Blut in den Ohren, und das Schnarchen meines Vaters hallt rasselnd durchs Wohnzimmer. Ich überlege kurz, ob ich ihn nach einem Batteriefach abtaste, um die leeren Akkus auszutauschen. Obwohl ich in der Zukunft viel Zeit allein verbringen werde – hier und heute fühle ich mich einsam. Papa verschluckt sich, wacht hustend auf.
„ Kann ich umschalten?“, frage ich.
Ich muss das knappe Zeitfenster nutzen, bevor er wieder wegdämmert.
„ Ich guck’ das“, entgegnet er, lehnt sich zurück und kämpft darum, die Augen offen zu halten.
Vergeblich.
Ein bisschen Musik wäre nett. In meinem Zimmer gibt es nur einen Radiowecker. Ich gehe die Treppe hinauf, durchquere den Flur mit dem himmelblauen Holzfußboden und betrete das Zimmer meines Bruders. Es ist viel größer als meins und liegt nach hinten raus. An den Wänden Poster von Atompilzen. Darunter steht „Why“. Die Bleistiftzeichnung einer gekreuzigten weißen Taube. Im Hintergrund marschieren Atomraketen. Helle Kiefermöbel, ein altes Sofa, dazwischen die Stereoanlage. Ich setze mich auf den Teppichboden und durchforste die Plattensammlung. Schrott, Schrott, Schrott. Ah! Ich muss zugeben, dass ich Michael Jackson erst so richtig nach seinem Tod zu schätzen weiß. Ist ja häufig so. Und
Thriller
ist wirklich ein großartiges Album.
Wanna Be Startin’ Somethin.
Ich auch Michael. Ich auch.
Auf dem Schreibtisch steht der
C64
. Für mein Vorhaben ungefähr so nützlich wie ein Brotkasten.
Denk nach, Nori! Wie lang dauert eine Reise nach London? Das Timing muss stimmen. Wenn ich mich zu früh auf den Weg mache, werden meine Eltern Großalarm auslösen. Ich muss dafür sorgen, dass mein Vater mich nicht sucht. Man nimmt die Fähre von Calais nach Dover. Wo zum Henker ist denn noch mal Calais? Mein Blick wandert über die Regale. Ein Weltatlas. Bestens. Index. Calais. Genau. Nord-Frankreich. Verflucht! Die Sache wird kompliziert. Ich brauche Geld und Informationen. Wieder mit dem Auto fahren kommt nicht infrage. Infos sollten im Reisebüro zu bekommen sein. Geld? Wir werden sehen. Vielleicht sollte ich jemanden ins Vertrauen ziehen. Aber mir fällt niemand ein, der mir meine Geschichte glauben würde. Das Gefühl der Einsamkeit wird stärker. Ich schalte Michael aus und schließe die Plattenspielerabdeckung, damit er nicht verstaubt.
Ich träume Seltsames in dieser Nacht. Die 8a bevölkert den Pavianfelsen. Sie führen sich auf wie Affen. Timm Becker liegt blutend zu meinen Füßen. Er rührt sich nicht, und ich habe Angst, dass ich ihn ernsthaft verletzt habe. Ich traue mich nicht, ihm das Sweatshirt vom Kopf zu ziehen. Die Affen springen wild brüllend umher, als wollten sich mich anfeuern, es doch zu tun. Als ich mich überwinde, neben Timm in die Hocke gehe, drehen sie völlig durch. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Ich strecke zögerlich den Arm, fühle die vom Blut feuchte Baumwolle des Sweatshirts, und ziehe es mit einem Ruck weg. Es ist nicht Timm, der da liegt. Es ist mein Vater.
Dienstag, 9. Juli 1985
Der Wecker erlöst mich. Meine Mutter lässt sich heute Morgen nicht blicken. Ich gehe ins Bad, ziehe mich an und verlasse das Haus. Ich bin früh dran. Nur wenige Kinder begleiten mich auf dem Weg zur Schule. Ich habe keinen Bock
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