Make new Memory oder wie ich von vorn begann (German Edition)
auf einen heißen Tag hin. Der kurze
Berufsverkehr kommt gerade ins Rollen. Die Pendler fahren in die umliegenden
Städte zur Arbeit. Das Klappern der Gullydeckel unter ihren Reifen, das Dröhnen
der Automotoren in der Häuserschlucht – alles scheint mir so vertraut. Krähen
umkreisen den Kirchturm. Kinder, kleiner als ich, mit Tornistern so groß wie
Schrankkoffer, ziehen in Gruppen an mir vorbei. Ich untersuche meinen
Rucksack. Schwarz, großer Adidas-Schriftzug. Darin eine Capri-Sonne,
Milchschnitte, Portemonnaie mit Klettverschluss, ein Walkman . Ich entscheide,
dass die Szene mit Soundtrack bestimmt noch überwältigender wird, setze die
Kopfhörer auf und drücke Play .
St. Elmo’s Fire von John Parr. Jawohl.
Growin’ up
You don’t see
the writin’ on the wall.
Ich reihe mich in die Karawane der
Schulkinder ein.
Passin’ by
Movin’ straight
ahead you knew it all.
Es geht vorbei am Modestübchen. Ich
sehe T-Shirts im Fenster, die meine Mutter mir kaufen wird.
But maybe
sometime if you feel the pain.
Ich wandere entlang der neuen
Doppelhäuser, wo einst die Pusteblumenwiese war.
You’ll find
you’re all alone
Everything has
changed.
Vorbei am Kindergarten, wo ich mir
an dem schweren Steinkreuz mal die Schulter geprellt habe.
Play the game.
Die Pferdekoppeln hinter der
Metzgerei.
You know you
can’t quit until it’s won.
Das alte Krankenhaus, wo mein
Bruder geboren wurde.
Soldier on
Only you can do
what must be done.
Der Kiosk neben der Grundschule,
den wir nur „das Büdchen“ nennen. Hier gibt es zwei Wassereis für fünfundzwanzig
Pfennig.
You know in some way
You’re a lot
like me.
Das Haus des Rektors mit dem
gepflegten Vorgarten.
You’re just a
prisoner
And you’re
tryin’ to break free.
Und dann meine alte Schule. Sie
sieht aus wie die Mondbasis Alpha 1 . Oder wie eine Burg aus hellen
Betonplatten mit Flachdach, aus dem vereinzelt Schornsteine wie Türme in die
Höhe ragen. L-förmig umschließt sie den Schulhof. Der wird an einer Seite
begrenzt durch die Rückseite der Turnhalle, einer Wand aus Glasbausteinen. Zur
anderen Seite blickt man über eine Wiese und Felder bis zu den fernen
Bahngleisen.
Take me where
my future’s lyin’
St. Elmo’s Fire.
Ich stehe noch da, lausche dem
Refrain, und traue mich nicht durch das Metalltor auf den belebten Schulhof,
als mir jemand in den Hintern tritt. Ich drehe mich, um den Angreifer zur Rede
zu stellen – doch mir bleibt die Spucke weg. Es ist Klaus. Er sitzt auf seinem
BMX-Rad und hält sich mit einem Arm am Torpfosten fest. Dass ich ihn mit
offenem Mund bestaune, als wäre er ein Gespenst, scheint ihm völlig zu entgehen.
Klaus sieht aus wie Alfred E. Neumann aus den MAD-Comics , aber alle
Mädchen finden ihn süß. Sommersprossen, blaue Augen, dunkle Locken. Ich kenne
niemanden sonst, der sich den Saum seiner Sweatshirts in die Jeans stopft.
Seine Sporttasche trägt er auf dem Rücken wie einen sehr großen Rucksack. Wir
haben uns fast dreißig Jahre nicht gesehen. Nein, das stimmt nicht. Richtig
ist, i ch habe ihn fast dreißig Jahre nicht gesehen. Er mich
wahrscheinlich gestern noch. Klaus ist ein guter Fußballer, ein schlechter
Schüler und grinst ständig wie ein Honigkuchenpferd. Jetzt auch. Ich nehme die
Kopfhörer ab. Scharen von Schülern ziehen an uns vorbei. Manche grüßen, und ich
grüße zurück.
„Überlegst du, ob du wieder
abhaust?“, lacht Klaus.
„Quatsch!“, erwidere ich
angestrengt locker.
„Möchtest du nicht die süßen
Tierchen im Zoo sehen?“
Er lacht über seine schlecht
imitierte Babysprache.
Ich grinse gequält. Klaus ist schon
in Ordnung, aber ich habe keine Ahnung, was ich zu ihm sagen soll. Er stößt
sich vom Torpfosten ab und rollt mitten durch eine Gruppe von Fünftklässlern in
Richtung Straße. Das erscheint mir recht unnötig. Jemand ruft meinen Namen.
Suchend blicke ich mich um.
„Da ist der Dicke“, sagt Klaus, und
hält an.
Der Dicke? Martin? Tatsächlich!
Martin kommt auf mich zu, zwei
Krücken in den Händen, die er lässig mit einem scharrenden Geräusch über den Gehweg
hinter sich her schleift. Er hat irgendeine Art Wachstumsstörung. Was immer das
sein mag, er ist trotzdem einen Kopf größer als ich. Martin trägt eine
pastellfarbene Jeans von Vanilia . Nur ich weiß, dass man sich für so was
in naher Zukunft schämen wird. Dazu ein weißes Polohemd. Und er hat im
Gegensatz zu mir eine Frisur – einen dunklen Mecki. Ich überlege, warum wir ihn den
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