Malefizkrott
ich auch geglaubt? Dass er mich verschonte, nur weil ich ihn ansprach? Ja, in Krimis, da bekamen die Serienhelden immer noch eine Chance, weil man sie noch brauchte, aber für einen, der sich ans Morden gewöhnt hatte und seine Macht genoss, gab es keinen Grund, auch nur eine halbe Sekunde zu zögern, nur weil ich die Serienheldin meines eigenen Lebens war und an mir hing.
Außerdem hätte ich ihn nicht mit Namen ansprechen und ihm zeigen dürfen, dass ich ihn erkannt hatte. Da musste er mich ja zum Schweigen bringen. »Schau auf dein Handy«, wollte ich sagen. »Wir kennen dein Motiv. Die Polizei weiß, wer du bist. Es ist aus!«
Aber er hatte sich schon umgedreht und lief fort, dem Ziel entgegen, das er seit einem guten halben Jahr voller Hass und Wahnsinn verfolgte.
Ich sank nieder, verlor die Orientierung. Irgendwo quoll Blut aus mir, klebrig und heiß. Schmerz fühlte ich keinen. Immerhin hatte er mich nicht ins Herz getroffen. Sonst könnte ich das schon nicht mehr denken. Nicht ohnmächtig werden! Bleib wach, Lisa Nerz! Das ist wichtig. Da kommt schon jemand. Der unbekannte Hel fer. Ich musste lächeln. Er wird sich um mich kümmern. Notarzt und Krankenwagen. Notoperation. Ich habe durchaus eine Chance.
Nein, nicht schießen! Erschieß mir nicht meinen Hel fer, du Arsch!
Der, der da aus dem Licht kam, trug einen cognacfarbenen Anzug. Wie Richard, dachte ich. Pass auf, er schießt! Aber das kümmerte keinen der beiden. Vermutlich hörten sie mich nicht. Ich war schon nicht mehr auf der Welt.
Der aussah wie Richard sprang den Schützen an, knurrend wie ein Bullterrier, packte ihn und schleuderte ihn mit einer einzigen leichten Bewegung fürchterlicher Kraft und Wut gegen ein Fenster. Es knallte, als wäre eine Taube dagegengeflogen, ich hörte Knochen brechen. Und der Mann mit dem zweiten Gesicht knallte auf den Boden wie eine zerfledderte Gliederpuppe.
Warum eigentlich, fragte ich mich, hat Marie damals das Buch nicht von Richard zurückgefordert? Sie hatte doch extra den Zettel mit seiner Telefonnummer vom Schwarzen Brett abgerissen.
Das war mein letzter Gedanke.
31
»›Sie kommen, die Schützen, die Soldaten. Weh uns!‹, schrie es durcheinander von allen Seiten. ›Sie kommen, die Soldaten, die Schützen. Weh uns! Sie sind schon da.‹ Da tönte das Kommando: ›Feuer!‹ Und da knackten die Hähne. Da war’s geschehen. ›Thalheim! Du auch? Die Kugel steckt in meiner Brust. Ach, so sind wir vereint, so ist’s ja gut. Der Himmel ruft die vereinten Seelen vereint hinauf.‹ Und sie drückten sich fest aneinander und ließen ihr Blut gemeinsam strömen, und im heißen Kuss der Liebe flohen ihre Seelen nach kurzem Erdenkampf aus den Körpern.«
Man kann sich an seinen letzten Gedanken nicht erinnern, wenn man nicht wieder aufwacht. Aber wo wurde er aufgehoben, wenn man tot war? Wo wurden all diese allerletzten Gedanken und Gefühle gesammelt? Wer nahm sich ihrer an, wenn der Mensch, der sie gedacht hatte, es nicht mehr konnte? Wieso kam ich nicht drauf? Die Lösung war sicherlich ganz einfach. Es war zum Verzweifeln.
Jemand murmelte. Etwas raschelte. Es kostete mich keine weitere Sekunde mehr zu wissen, wo ich war.
Richard saß an meinem Bett und hatte die Augen in ein quietschgrünes Buch mit einem kleinen Leuchtturmsignet gesenkt, auf dessen kartoniertem Deckel in weißer Schrift »Louise Otto, Schloß und Fabrik« stand.
»Von neuer Rechtschreibung halten die auch nichts.«
Über den Buchrand hinweg schaute Richard mich entgeistert an. Das giftgrüne Buch verschwand, und er griff nach meiner Hand, die, wie ich feststellte, mit einem Infusionsbaum verkabelt war. Sein Lächeln war so zerknittert, dass ich das Schlimmste befürchtete.
»Ist Marie tot?«
»Gott, Lisa! Nein. Du warst tot!«
Ich erinnerte mich klar und deutlich. »Und Ruben?«
»Schulter- und Rippenbrüche«, antwortete Richard wegwerfend. »Und eine Halswirbelfraktur. Aber er kommt durch.«
»Das warst du, nicht wahr?«
Richard zog es vor, nicht zu antworten. Aber seine Lider zuckten bestätigend. »Er hat bereits ein Teilgeständnis abgelegt. Seine Absicht war es, Marie, Lola und Michel zu erschießen. Und er gibt an, Durs Ursprung und Volker B. getötet zu haben. Natürlich kann erst ein detailliertes Geständnis in Anwesenheit seines Anwalts zeigen, ob er die Taten auch wirklich begangen hat. Aber immerhin konnte er angeben, wo am Max-Eyth-See die Leiche des von ihm ebenfalls erschossenen Hundes von Volker B.
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