Malina
einmal gerüttelt habe. Im Café Musil habe ich vielleicht doch nicht das Stück Torte nach der Aufnahmsprüfung bekommen, aber ich möchte es bekommen haben und sehe mich mit einer kleinen Gabel eine Torte zerteilen. Vielleicht habe ich die Torte erst ein paar Jahre später bekommen. Am Anfang der Seepromenade des Wörthersees, nicht weit von der Dampferstation, bin ich zum erstenmal geküßt worden, aber ich sehe kein Gesicht mehr, das sich meinem nähert, auch der Name von dem Fremden muß im See verschlammt sein, nur von Lebensmittelkarten weiß ich noch etwas, die ich dem Fremden gegeben habe, der nicht mehr zurückgekommen ist zur Dampferstation am nächsten Tag, denn er war eingeladen bei der schönsten Frau der Stadt, die mit einem großen Hut durch die Wienergasse ging und wirklich Wanda hieß; einmal bin ich ihr nachgegangen bis zum Waagplatz, ohne Hut, ohne Parfüm und ohne den sicheren Gang einer Frau von fünfunddreißig Jahren. Der Fremde war vielleicht auf der Flucht oder er wollte Zigaretten für die Marken eintauschen und sie rauchen mit der schönen großen Frau, nur war ich damals schon neunzehn Jahre alt und nicht mehr sechs, mit einer Schultasche auf dem Rücken, als es wirklich passierte. In einer Großaufnahme steht die kleine Glanbrücke da, nicht das abendliche Seeufer, nur diese mittäglich übersonnte Brücke mit den zwei kleinen Buben, die auch ihre Schultaschen auf dem Rücken hatten, und der ältere, mindestens zwei Jahre älter als ich, rief: Du, du da, komm her, ich geb dir etwas! Die Worte sind nicht vergessen, auch nicht das Bubengesicht, der wichtige erste Anruf, nicht meine erste wilde Freude, dasStehenbleiben, Zögern, und auf dieser Brücke der erste Schritt auf einen anderen zu, und gleich darauf das Klatschen einer harten Hand ins Gesicht: Da, du, jetzt hast du es! Es war der erste Schlag in mein Gesicht und das erste Bewußtsein von der tiefen Befriedigung eines anderen, zu schlagen. Die erste Erkenntnis des Schmerzes. Mit den Händen an den Riemen der Schultasche und ohne zu weinen und mit gleichmäßigen Schritten ist jemand, der einmal ich war, den Schulweg nach Hause getrottet, dieses eine Mal ohne die Staketen des Zauns am Wegrand abzuzählen, zum erstenmal unter die Menschen gefallen, und manchmal weiß man also doch, wann es angefangen hat, wie und wo, und welche Tränen zu weinen gewesen wären.
Es war auf der Glanbrücke. Es war nicht die Seepromenade.
Während manche Menschen an Tagen geboren sind, wie dem 1. Juli, an dem gleich vier hochberühmte Leute geboren sind, oder am 5. Mai, an dem sich die Weltverbesserer und Genies drängen und ihre ersten Schreie ausgestoßen haben, konnte ich nie herausfinden, wer die Unvorsichtigkeit begangen hat, sein Leben auch an dem Tag anzufangen, der für mich der erste war. Ich kenne nicht die Befriedigung, mit Alexander dem Großen, mit Leibniz, mit Galileo Galilei oder Karl Marx in eine Sternstunde geraten zu sein, und selbst auf der Reise von NewYork nach Europa, auf dem Schiff ›Rotterdam‹, auf dem die Geburtstagsliste aller Passagiere, die in diesen Tagen zu feiern waren, in Evidenz gehalten wurde, kam an dem Tag, als die Reihe an mir war, nur durch meine Kabinentür eine gefächerte Glückwunschkarte vom Kapitän, und noch hoffte ich bis mittag, daß unter vielen Hunderten von Passagieren, wie an allen Vortagen, noch einige seien, die an diesem Tag eine Gratistorte auf den Tisch bekamen und mit dem Absingen von ›happy birthday to you‹ überrascht würden. Aber dann war nur ich es, ich sah mich vergeblich um im ganzen Speisesaal, nein, niemand sonst, ich schnitt rasch die Torte an, verteilte sie eilig an drei Holländertische und ich redete und trank und redete, ich vertrüge den Seegang nicht, hätte die ganze Nacht nicht geschlafen, und ich lief zurück in die Kabine und sperrte mich ein.
Es war nicht auf der Glanbrücke, nicht auf der Seepromenade, es war auch nicht auf dem Atlantik in der Nacht. Ich fuhr nur durch diese Nacht, betrunken, der untersten Nacht entgegen.
Erst später kam ich darauf, daß an dem Tag, der mich damals noch interessierte, wenigstens jemand gestorben war. Auf die Gefahr hin, auch der Vulgärastrologie ins Gehege zu kommen, weil ich mir die Zusammenhänge hoch oben über uns einbilden darf, wie ich will, weil mir keine Wissenschaft dabei auf die Finger sehen und draufklopfen kann, hänge ich meinen Anfang mit einem Ende zusammen, denn warum soll nicht jemand zu leben anfangen, wenn der
Weitere Kostenlose Bücher