Eistochter
1
»Komm schon, Beck. Es wird Zeit aufzustehen.«
Nichts.
Ich werfe einen Blick auf mein Armband. Wir werden zu spät kommen.
»Beck«, flüstere ich und beuge mich über sein Gesicht.
Eine warme, gebräunte Hand greift nach meinem Arm, als wollte sie mich ins Bett ziehen, sinkt dann aber wieder schlaff herunter. Sonst geschieht nichts. Beck liegt zusammengerollt da, und seine wilde Mähne blonder Locken lugt unter der gestreiften Bettdecke hervor. Den anderen Arm hat er sich übers Gesicht geworfen und hält damit die Decke fest. Wenn er schläft, sieht er noch aus wie mit acht Jahren, nicht wie ein fast achtzehnjähriger Mann.
»Beck!« Ich werde laut.
»Lark? Hmmm.« Seine Augenlider zucken unverbindlich.
Ich reibe seine warme Hand. »Bitte steh auf, sonst bist du schuld, wenn wir zu spät zur Schule kommen.«
Er gähnt und grinst mich an. »In Ordnung.«
Jetzt ist er hellwach, befördert die Bettdecke mit einem Tritt beiseite und steht auf. Sein Fuß trifft auf sein Geschichtsbuch und lässt es unter das Bett gleiten. Ich verlagere mein Gewicht und achte darauf, die neben Becks Bett verstreuten Zettel nicht zu zerknittern.
»Deine Ecke ist ekelhaft.« Ich rümpfe die Nase.
Er grinst, zeigt mir die Zähne und zieht mir das Umschlagtuch enger um die Schultern. »Ich weiß. Es gefällt mir so.«
Von den sechsundzwanzig Schülern, die in unserem Haus leben, sind Beck und ich die Einzigen, die sich als Junge und Mädchen ein Zimmer teilen. Mein Blick huscht durch seine Zimmerhälfte. Der Kontrast zwischen seiner und meiner könnte hinsichtlich der Ordnung nicht größer sein. Auf seiner Seite – der gegenüber – herrscht Chaos. Seine Lacrosse-Ausrüstung hängt von seinem Schreibtisch, und der Schläger dient als behelfsmäßiger Garderobenhaken. Der Boden ist mit Haufen sauberer und schmutziger Kleidung übersät.
Obwohl Beck so unordentlich ist, macht es mir nur etwas aus, mir das Zimmer mit einem Jungen zu teilen, wenn die anderen Schüler uns deswegen aufziehen. Es ist ja nicht so, dass wir uns hätten frei entscheiden können: Meine Mutter hat veranlasst, dass wir schon als Säuglinge zusammengelegt wurden, da wir beide Nachkommen der Gründer sind. Laut Mutter, dem Staat und allen anderen auf der Welt heißt das, dass wir zusammengehören.
Nicht dass ich anderer Meinung wäre. Selbst wenn wir nicht die Greenes und die Channings wären, hätte ich Beck gern als Partner. Niemand sonst versteht mich so wie er – und wie könnten sie auch? Beck und ich sind zwei der bekanntesten Mitglieder unserer Gesellschaft. Jede unserer Bewegungen wird aufgezeichnet, analysiert und kommentiert.
Obwohl ich es so eilig habe, zur Schule zu kommen, bin ich also nicht gerade begeistert darüber, dieses Zimmer verlassen zu müssen. Jedes Mal, wenn ich es tue, lasse ich meine Privatsphäre zurück und muss zu Lark Greene werden, der perfekten, verantwortungsvollen Schülerin, dem prominenten Mitglied der Westlichen Gesellschaft.
Ich verabscheue es.
Ich greife um Beck herum und schalte seine Leselampe aus. Er muss noch gebüffelt haben, lange nachdem ich gestern Abend eingeschlafen war. Ich beginne die Stirn zu runzeln. Ich bin Beck im Kampf um den ersten Platz in unserer Klassenwertung knapp voraus, aber wenn er länger gelernt hat …
Er legt mir die Hände auf die Wangen. »He, warum so traurig?« Sein Blick wird unstet vor Besorgnis.
Ich blinzle. »Bin ich nicht – es sind nur die Nerven.«
»Hast du Angst, dass du nicht deinen Traumpartner bekommen wirst?«, zieht er mich auf. Ich verdrehe die Augen. Anders als neunundneunzig Komma neun Prozent der Bevölkerung sind Beck und ich einander von Geburt an versprochen. Partner von Geburt an. Wir müssen an der Partnerwahl und der Einstufungsprüfung nicht teilnehmen, nur an den Arbeitsplatzprüfungen.
Vor Anspannung bildet sich ein harter Knoten in meinem Magen. Ich wünsche mir einen guten Arbeitsplatz beim Staat mehr als alles andere, vorzugsweise in der Landwirtschaftsabteilung. Ich muss gut abschneiden. Und das heißt, dass ich nicht zu spät kommen darf.
Beck stupst mit der Nase meine an und lässt die Augenbrauen spielen. Als ich mir ein halbherziges Lächeln abringe, lässt er mich los.
»Wir werden heute prima abschneiden, das weiß ich.« Er lächelt mich an, und mit seinem Strahlen kann nur das seiner lebendigen dunkelgrünen Augen mithalten. Bis auf unseren Geburtstag sind diese Augen das Einzige, was wir miteinander gemein haben – sogar die
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