Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
würde er gleich wieder weinen. »Bitte, Leo. Genau deshalb wollte ich es dir nicht erzählen.«
»Tut mir leid.« Ich trat heftig nach dem Schnee im Rinnstein. Er war steinhart gefroren und mir tat hinterher nur der Fuß weh.
»Du musst meine Kämpfe nicht für mich austragen, Leo.« Stirlings Stimme zitterte immer noch.
»Wie willst du sie denn allein austragen?«
»So, wie es sich gehört.«
»Was heißt das genau? Indem du die anderen gewi n nen lässt? Ihnen die andere Wange hinhältst? Manchmal ist das genau das Falsche. Die Menschen müssen es b e merken, wenn sie etwas Schlechtes tun.« Ich starrte zu Boden. »Hat er das wirklich gesagt?«
»Ja. Aber vielleicht wollte er gar nicht, dass es sich so schlimm anhört. Zuerst sagte er: › Bilde dir bloß nicht ein, dass du zu gut bist, um Soldat zu werden. ‹ « Seine Sti m me flatterte. »Das bilde ich mir gar nicht ein. Ich denke nie, dass ich für irgendwas zu gut bin.«
»Ich weiß.«
»Er redete weiter. › Du hast Glück, dass du überhaupt eine Chance im Leben bekommst, wenn man bedenkt, was deine Eltern waren. Dein Vater hätte weit schlimmer bestraft werden sollen dafür, dass er sein Geld verdient hat mit royalisti scher …« Ihm fiel das Wort nicht ein. »Royalistischer … «
»Propaganda?«, soufflierte ich. Ich hatte diese Unte r stellungen schon früher gehört.
»Ja … Und dann meinte er: › Und deine Mutter war nichts Besseres als eine Prostituierte .‹ Das war es, was er gesagt hat. Also hat er nicht gemeint, dass sie exakt so etwas wie eine Prostituierte war.«
Ich erwiderte nichts. »Sie war doch keine, oder?«, fragte Stirling zaghaft.
»Was?« Ich drehte mich zu ihm und packte ihn an der Schulter. »Stirling, du bist schlau genug, um zu wissen, dass das eine Lüge ist. Sie war Sängerin. Eine gute Sä n gerin – eine wirklich gute.«
»Und Tänzerin.«
»Ja. Aber in Theatern, nicht in Bars oder so was. Da ist ein großer Unterschied zwischen ihr und einer Prost i tuierten. Sergeant Markey ist nur leider ein zu großer Schwachkopf, um …«
Ich merkte, dass ich seine Schulter schüttelte, und ließ ihn los. »Sie war Sängerin«, trichterte ich ihm noch ei n mal ein.
»Ja. Ich kann mich bloß nicht mehr an sie erinnern, das ist alles. Und wenn Leute einem dann was erzählen, hält man es erst mal für wahr.«
»Ich weiß.« Ich sprach nun freundlicher.
»Hör zu, Leo. Sag Großmutter nichts davon. Bitte tu es nicht. Sie würde sich furchtbar aufregen.«
Ich zögerte einen Moment, bevor ich nickte. Er zitterte immer noch. »Hier, nimm meine Jacke.«
»Nein … Du hast noch nicht mal einen Mantel.«
»Das macht nichts.« Ich zog meine – vorschriftsmäßig blass blaugraue – Uniformjacke aus und wickelte sie ihm über dem Mantel um die Schultern. »Komm jetzt. Je fr ü her wir zu Hause ankommen, desto besser.«
Zurück in der Wohnung machte Großmutter ein zieml i ches Aufhebens um Stirling, sie kochte ihm Tee und brachte ihn dann zu Bett, während ich hustend und frö s telnd am Feuer saß. Ich hatte meine Jacke und meinen Mantel wieder angezogen, fror aber immer noch, und starrte mit gerunzelter Stirn in die Flammen.
Nachdem Großmutter die Schlafzimmertür hinter sich geschlossen hatte, kam sie zurück ins Wohnzimmer. »Er schläft«, flüsterte sie.
Sie zog ihren Schaukelstuhl ans Feuer, setzte sich hi n ein und begann, ein paar bunte Stoffquadrate zusamme n zunähen, die sie kaum drei Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt hielt. Sie fing an, vor sich hinzusummen. Das irritierte mich.
»Alles in Ordnung, Leo?«, fragte sie. Ich nickte. Wir hatten uns nie viel zu sagen. »Ich habe etwas Suppe au f gesetzt«, sagte sie.
Ich nickte wieder und beobachtete, wie die Flammen übe r d en kleinen Holzstoß auf dem Feuerrost züngelten. Ich bekam Kopfschmerzen von dem grellen Licht und schloss die Augen, aber hinter meinen Lidern zuckten noch immer bunte Flecken. Großmutter summte weiter, und das auch noch falsch. Ich legte den Kopf auf meine Arme und die Arme auf meine Knie.
»Ich hoffe, Stirling hat sich keine Erkältung geholt«, sagte sie nach einer Weile.
»Eine Erkältung?« Ich hob den Kopf und sah sie scharf an. »Ist dir aufgefallen, wie er gezittert hat? Er könnte sich mehr als nur eine Erkältung geholt haben, als er über drei Stunden da draußen im Schnee stand!«
»Schrei mich nicht an, Leo.« Sie nestelte an ihrer Näharbeit herum, ohne mir in die Augen zu sehen.
»Ich schreie nicht«, sagte
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