Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
ich mit ruhigerer Stimme. »Und es ist zum Teil auch deine Schuld. Du glaubst, dass die Lehrer von Gott gesandte Engel sind, die nichts falsch machen können. Er hat Stirling zum Weinen g e bracht! Dieser Schweinehund M ar key drangsaliert ihn die ganze Zeit über.«
»Leo!«
»Hör auf, mich zu unterbrechen!« Nun schrie ich ta t sächlich. Mir tat davon der Kopf weh, und das ließ mich noch lauter brüllen. »Man muss etwas gegen ihn unte r nehmen. Er hat Stirling zum Weinen gebracht!«
»Weshalb hat Stirling geweint?« Sie ließ die Näharbeit sinken.
Nun hielt ich inne. Ich hatte ihm versprochen, dass ich es ihr nicht verraten würde. Ich zuckte mit den Schultern und legte den Kopf wieder auf die Knie.
»Ich bin auf eurer Seite, Leo«, sagte sie eine Minute später. »Ich will nur, dass ihr glücklich seid. Glücklich mit dem, was ihr habt.« Ich sah zu ihr hoch. »Ich weiß, dass du die Schule nicht magst, aber du musst das Beste daraus machen. Du musst dich daran gewöhnen, dass dein Leben ist, wie es ist. Deshalb stell e i ch mich auf die Seite der Lehrer. Nicht, weil ich glaube, dass du immer Unrecht hast.«
Ich gab keine Antwort.
»Könnte Stirling aus Sergeant Markeys Klasse ve r setzt werden?«, fragte sie nun. »Ich könnte mit dem D i rektor sprechen. Er ist vernünftig und war immer nett zu euch beiden. Er würde wollen, dass man es ihm meldet, wenn sich einer seiner Lehrer derart unfair verhält.«
»Vielleicht. Es gibt noch einen anderen Zweitklässler-Zug. Ich kenne den Lehrer aber kaum.« Unsere Schule führte vom ersten Schuljahr direkt bis zum neunten Schuljahr – vom sechsten Lebensjahr bis zum fünfzeh n ten. Bei zwei Klassen pro Jahrgang bedeutete das mehr als neunhundert Schüler. Alles Jungen, natürlich. Mä d chen hatten in Malonia seit Luciens Machtübernahme nicht mehr die Schule besucht. »Ich schätze, du könntest mit dem Colonel reden«, sagte ich, aber ich wusste, dass Stirling das nicht zulassen würde.
»Ach ja. Es heißt nicht Direktor, es heißt Colonel. Und eine Klasse ist ein Zug.«
Ich lachte. »Idiotisch, nicht wahr? Du musst zugeben, dass es idiotisch ist.«
»Vielleicht. Vielleicht ist es aber auch eine gute Übung.« Sie legte ihre Näharbeit wieder beiseite und ging zum Herd, um die Suppe umzurühren. Ich hustete noch immer. »Leo, bist du krank?«, fragte sie.
»Nein. Mir war nur kalt, das ist alles.« Aber als ich ins Bett ging, war der Husten immer noch da. »Ich mache mir Sorgen um Stirling«, sagte ich zu Großmutter, als sie hereinkam, um nach ihm zu sehen. »Ich habe Angst, dass er sich nicht … verteidigt. Weißt du, was ich meine?«
»Selig sind die Sanftmütigen«, erwiderte sie. »Es gibt mehr als eine Art, die Kämpfe des Lebens auszutragen, Leo.« Ich seufzte, drehte mich auf die Seite und schlief ein.
In meinen Träumen kehrte ich zu der Geschichte z u rück, die aus dem Nichts aufgetaucht war; zu den Me n schen und Orten in dem seltsamen Buch. Ich konnte das Mädchen und die funkelnde Halskette sehen; dann auf diesem höchsten Balkon den Prinzen mit seinen Eltern, während die Sonne unterging. Ich konnte sie ganz deu t lich sehen. Und dann nahm in meinem Traum eine and e re Geschichte ihren Anfang. Ein alter Mann saß allein in einem leeren Haus, als ein Fremder an der Tür klingelte.
Obwohl er die ganze Woche darauf gewartet hatte, schrak Raymond zusammen, als es an der Tür klingelte. Er war sich sicher gewesen, dass am Ende niemand kommen würde. Dies war der letzte Tag, und bisher war niemand aufgetaucht. Er legte die Zeitung weg und ra p pelte sich aus seinem Lehnsessel hoch.
Es läutete wieder. Das Geräusch brachte die leeren V i trinen in der Diele jedes Mal zum Klirren. Raymond b e ruhigte eine von ihnen im Vorbeigehen mit dem Handr ü cken, dann humpelte er weiter zur Tür. Er nestelte an den neuen Schlössern herum und murmelte dabei: »Ich komme schon.«
Ein paar Schritte von der Türschwelle entfernt stand ein Mann mittleren Alters. Es war ein grau aussehender Mann – das war Raymonds erster Gedanke – grau wie Stahl. Graue Augen, ein grauer Bartschatten am Kinn, graues Haar – das jedoch nicht vom Alter kam, sondern ein natürlicher, metallischer Farbton war.
»A l … äh … Arthur Field«, sagte der Fremde mit e i nem Akzent, der weder englisch noch wirklich auslä n disch war. »Ich bin wegen der Butlerstelle hier.« Noch während er sprach, streckte er die Hand aus. Und die Hand, die er ausstreckte, war seine
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