Mantelkinder
Ermordung. Wie hypnotisiert verfolgte sie einzelne Regentropfen auf ihrem Weg die Scheibe entlang. Schließlich fluchte sie laut. Vierzehn Tage, und sie standen immer noch mit leeren Händen da. Der Verdacht gegenüber Josef Schmitz hatte sich als Luftnummer erwiesen. Kaum war der Haftbefehl unterschrieben, mussten sie ihn wieder laufen lassen, denn das Labor wies nach, dass die Farben und Materialien, die seine Frau verarbeitete, sich völlig von dem Schal unterschieden, mit dem Annika gefesselt worden war. Außerdem bestätigte seine Geliebte, dass sie das ganze Wochenende zusammen waren, weil ihr Mann auf einem Ärztekongress in Baden-Baden weilte. Sie sagte tatsächlich „weilte“. Und noch ein Punkt entlastete Schmitz: Als Annika mit der Gehirnerschütterung im Krankenhaus lag, saß er nachweislich in einem Flieger nach Teneriffa. Auf diesem Weg konnte er das Kind also nicht kennengelernt haben.
Die nächste Luftnummer war Bernd Eichgruber, Annikas leiblicher Vater. Sein Alibi war wasserdicht und er konnte glaubhaft versichern, dass er bisher nichts von der Existenz einer Tochter gewusst hatte.
Alle Männer aus Annikas näherem Umfeld waren überprüft worden und zum wiederholten Mal die Männer, mit denen Claudia Kontakt gehabt hatte. Bei niemandem ergab sich auch nur der Hauch eines Anfangsverdachts. Kein Anfangsverdacht, keine Speichelprobe, so einfach war das.
Ein Bezugspunkt zwischen den Familien Seibold und Klausen ergab sich ebenfalls nicht. Also hatte Susanne alles wieder auf null gesetzt und die SOKO fing ganz von vorn an. Die Folge waren lange, zermürbende Gespräche. Angefangen bei Wolfgang Seibold, der mehr und mehr in Depressionen verfiel. Dann Monika Seibolds Eltern, die in ihrem Wohnzimmer eine Art Altar eingerichtet hatten, geschmückt mit Kerzen, Blumen und Fotos von ihrem kleinen Sonnenschein. Martina Klausen, die von Schuldgefühlen förmlich erdrückt wurde. Sie warf sich vor, zu viel mit ihrer Werkstatt beschäftigt gewesen zu sein. So sehr beschäftigt, dass sie nicht einmal die fünf Minuten geopfert hatte, ihre Tochter bis in den Kindergarten zu bringen. Nur, weil sie das Collier im Kopf gehabt hatte.
Nieten, dachte Susanne jetzt, als sie dem Regen zusah. Du ziehst immer nur Nieten. Wir stehen mit absolut leeren Händen da. Und heute ist Freitag. Der gottverdammte zweite Freitag.
Hellwein kam leise herein, stieg über ein paar Ordner, die er achtlos auf dem Boden hatte liegenlassen, setzte sich umständlich an seinen Schreibtisch und zog ebenso umständlich seine grau-rot gestreifte Krawatte zurecht. Er sah auf Susannes knochige Schultern und sagte: „Ich weiß, was du denkst.“
„Ach ja?“
„Ja — wir sind genau die unfähigen, trotteligen Bullen, die die Presse in uns sieht. Wir sind nicht mal in der Lage, einen miesen, kleinen Kindermörder zu fassen.“
„Nein, Heinz.“ Susanne drehte sich herum, und Hellwein war erschrocken, dass die Ringe unter ihren Augen noch tiefer geworden waren. „Ich dachte eher daran, dass heute Freitag ist.“
„Es kann Zufall gewesen sein“, versuchte er abzuwiegeln.
„War bei Annikas Tod irgendwas zufällig?“
„Nein, aber sieh mal: Es ist jetzt fast drei und wir haben noch keine Vermisstenmeldung.“
„Wann wurde Claudia vermisst gemeldet?“, fragte Susanne scharf.
Hellwein biss sich auf die Lippen. 15 Uhr 20. Er wusste es nur zu genau.
Susanne seufzte. „Lass uns weitermachen, Heinz.“ Sie nahm ihren dunklen Wollmantel von der Garderobe und hielt ihm einladend die Tür auf. Über Uhrzeiten zu diskutieren, brachte sie keinen Schritt weiter.
„Wen haben wir auf dem Programm?“, fragte Hellwein im Treppenhaus. Im Gehen schlüpfte er in seine rote Daunenjacke. Mit diesem plustrigen Oberteil ähnelte er einem gedrungenen Bären. Aber das war ihm ausnahmsweise egal. Hauptsache, das Ding hielt warm.
„Gustav Zingsheim, diesen Schulfreund von der Seibold.“
„Den hatten wir auch schon mal!“, stöhnte er.
„Fällt dir was anderes ein?“, zischte seine Vorgesetzte.
Hellwein presste die Lippen zusammen und hielt den Mund. Wenn die „eisige Braun“ in dieser Stimmung war, machte man sich besser unsichtbar.
Zingsheim wohnte an der Zülpicher Straße, auf der es durch ihre Nähe zur Uni laut und hektisch zuging. Studentenkneipen, Imbissbuden, Copy-Shops und Waschsalons reihten sich aneinander. Viele Leute liefen trotz roter Ampel quer über die Fahrbahn, eine gerade eingefahrene Straßenbahn spuckte Menschentrauben
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