Mappa Mundi
hinzusehen; aus dem Augenwinkel beobachtete sie Karen. Sie wusste genau, dass sie hier nichts finden würde. Nur in den Bottoms, einer Senke, durch die ein verzweigter Wildbach führte, bestand vielleicht noch eine Chance. Der Bach hielt den Boden dort auch dann noch feucht, wenn woanders schon längst alles braun und vertrocknet war. Karen ging nicht gern in die Bottoms, weil es so mühsam war, die Böschung wieder hinaufzuklettern, und wegen des schlüpfrigen gefällten Baumstamms, der über den Bach führte. Sie wagte es nicht, darauf zu balancieren, und musste deshalb kriechen und sich mit den Händen festhalten. Natalie jedoch hatte sich zu sehr über Karen geärgert, um nun Rücksicht auf ihre Ängste zu nehmen.
»Ich rieche hier gar nichts. Aber«, sie schnüffelte theatralisch, »ich glaube, im Unland könnten wir Glück haben.«
Karen ballte die Fäuste. »Du gibst dir nicht genug Mühe«, sagte sie. Ihre Wangen liefen rosarot an.
»Hier gibt es nichts. Dies Jahr wird die Kaiserin Verzicht üben müssen«, erwiderte Natalie salbungsvoll. »Es sei denn, wir meistern die finstere Reise und bringen ihr doch noch Pilze.« Sie sah Karen entschlossen in die Augen. Das Spiel langweilte sie zwar schon, doch wie immer bereitete es ihr eine diebische Freude zu beobachten, wie Karen sich schon durch die leiseste Andeutung von Feigheit augenblicklich zu einer Änderung ihrer Ansichten nötigen ließ.
»Aber wir müssen uns beeilen«, stimmte ihre Spielgefährtin einen Moment später zu, »denn der Winter naht. Schon bald sind die Pässe nicht mehr zu überwinden. So, ich reite los.« Sie stieg auf das Pferd des Prinzen, den starken Hengst Arctica, und galoppierte die Böschung hinunter. Natalie rannte ihr hinterher. Ihrer Meinung nach würden sie auch in den Bottoms keine Pilze finden, aber den Hügel so schnell hinunterzurennen, wie sie konnte, machte ihr großen Spaß und endete wie immer damit, dass sie sich unten durchs Gras rollten und immer wieder überschlugen, während sie von den Pfeilen der treffsicheren Feinde niedergestreckt wurden.
Während Natalie tapfer auf drei Beinen weiterkroch, um ihr Bestes für die Kaiserin zu geben, verlor sie bald jegliches Zeitgefühl und vergaß, wie wütend sie auf Karen war. Das verletzte Bein nachziehend, durcheilte sie die dunklen Gruben von Rasmora und erkundete vergebens die wilden Knoblauchtäler von Ys. Unter einem überhängenden Fels des Kalten Berges schlugen sie ihr Lager auf. Ohne dass sie auch nur die Spur eines Pilzes fanden, brach der Winter herein.
Pongos Bein heilte allmählich, obwohl er noch immer hinkte, und langsam schlossen sich auch die Wunden, die der Prinz durch die Giftpfeile erhalten hatte. Dennoch war er so schwach, dass er nur dem Hund folgen konnte und sich an den sicheren Stellen verstecken musste, während Pongo das Ufer des Stroms absuchte. Zweimal griffen Kriegstrupps der Fuchslochwühler von Eustachia sie an. Diese schrecklichen Kreaturen gruben sich unter der weichen Erde ungesehen zu ihnen durch und sprangen sie, mit krummen Säbeln bewaffnet, aus dem Dunkeln an. Zweimal musste der Prinz mit bloßen Händen gegen sie kämpfen, und zweimal riss Pongo sie mit seinen Zähnen in Stücke. Obwohl sie den Geschmack des schwarzen Fleisches kaum ertragen konnten, verzehrten sie beide die Leichen der Erschlagenen, um nicht zu verhungern.
Der klirrend kalte Dezember ging in einen düsteren, noch eisigeren und gefährlicheren Januar über. Geier und Krähen fraßen die Überreste der Fuchslochwühler, bis von den Unholden nichts mehr übrig blieb. Eine Prinzessin tauchte auf, geriet aber in Vergessenheit. Giftige Winde umwehten sie und hinderten sie an der Rückkehr zum Schloss, und sie setzten ihre vergebliche Suche fort. Der Prinz beschwor schon das Ende des Reiches, weil die Kaiserin altern musste. Und eines Tages blickte Pongo auf und sah, dass von Osten eine tiefe Dunkelheit heranzog.
»Wie spät ist es?«
»Weiß ich nicht. Meine Uhr ist stehen geblieben.«
Sie standen auf und blickten nach Westen, wo das letzte Licht des Sonnenuntergangs schon schwächer wurde. Obwohl ihnen noch vor wenigen Minuten nichts aufgefallen war, sahen sie nun deutlich, welch dunkle Schatten sich unter den Bäumen zusammenzogen. Wo die Böschung grün und golden geleuchtet hatte, kroch nun eine weiche, puderige Bläue hinauf und legte sich über einen Grashalm nach dem anderen. Die weiche, wollige Wärme des Abends war plötzlich verschwunden, als hätte sie
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