Mara und der Feuerbringer
da entwand sich der Kehle des blonden Mannes ein seltsames Geräusch. Es passte so wenig zu der Situation, in der er sich befand, dass Mara erst gar nicht erkannte, was es war. Doch schließlich verstand sie, was der Mann tat. Er lachte. Er lachte sowohl höhnisch als auch wütend, schmerzerfüllt und hysterisch. Gleichzeitig aber klang dieses Lachen so verzweifelt, dass Mara scharfe Tränen in die Augen schossen.
Die Stimme des Mannes wurde immer lauter, immer schriller, und Mara fühlte sich erst an den Schrei eines Raubvogels erinnert. Im nächsten Atemzug aber war ihr, als wäre es ein tief grollender Bär, nein, ein heiser jaulender Wolf … und doch eine menschliche Stimme.
Die Höhle erzitterte, die Tropfsteine an der hohen Decke knackten bedrohlich. Mara duckte sich unwillkürlich, als neben ihr einer der Kalksteine aufschlug und explosionsartig in Scherben und Staub zerbrach. Doch urplötzlich war es wieder so still, dass Mara Angst hatte, der Mann würde sie atmen hören … Da! Sah er nicht gerade zu ihr hinüber? Mara hielt den Atem an, obwohl ihre Lungen sich anfühlten, als würden sie gleich platzen … Nein. Sie musste sich getäuscht haben. Der Kopf des Mannes sank erschöpft auf das steinerne Bett und er blickte ins Nichts.
Sie wagte es wieder, flach zu atmen, und sah sich um.
Die Höhle war erfüllt von dem steinernen Staub des zerborstenen Kalksteins und drehte sich langsam in dem gleißenden Lichtkegel wie eine Windhose in Zeitlupe.
Da erkannte Mara im Halbdunkel neben dem Gefangenen eine weitere Gestalt, die sich zögerlich aus den Schatten löste. Als sie schließlich ins Licht trat, blickte Mara in das traurigste Gesicht, das sie jemals gesehen hatte. Es war das Gesicht einer Frau. In der Hand hielt sie eine Holzschale. Doch ihr Blick war nicht auf den Gefesselten gerichtet, sondern auf irgendetwas, das sich oberhalb seines Kopfes aus der Dunkelheit schälte. Ein bösartiges Zischen, das Mara eineGänsehaut über den Rücken jagte, drang dazu zwischen den Tropfsteinen hervor und erfüllte die Höhle mit einem mehrstimmigen Echo. Der Gefesselte schien etwas zu schimpfen oder zu fluchen, doch die Frau an seiner Seite blieb still. Stattdessen hob sie langsam die Holzschale empor und …
Die Bilder verschwanden wie in einer Nebelwand. Mara sog die Luft ein, als wäre sie nach einem Tauchgang durch die Wasseroberfläche gestoßen, riss die Augen auf und … starrte verwirrt auf die Unterseite ihres Schreibtischs.
Sie lag zum zweiten Mal auf dem Rücken in ihrem Zimmer, ihre Augen waren rot und ihr Gesicht nass von Tränen.
»Wer ist dieser Mann? Was hat er getan, dass man ihn so quält?«
Mara fiel es schwer, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen. Auf eine seltsame Weise fühlte sie sich mitschuldig an dem Schicksal des Mannes, obwohl sie nichts getan hatte, außer zuzusehen. Oder etwa,
weil
sie nichts getan hatte? Aber was hätte sie denn tun sollen? Doch da spürte Mara noch etwas anderes: Ja, irgendetwas hatte sie daran gehindert, ihm zu helfen. Sie hatte außer Mitleid noch etwas gefühlt. Ja, natürlich hatte sie Angst gehabt – aber nicht nur vor dem geheimnisvollen Mann oder seinen Feinden! Nein, Mara hatte vielmehr Angst vor sich selbst gehabt. Davor, eine große Dummheit zu begehen, eben
weil
sie so viel Mitleid mit dem Gefesselten hatte. Was für ein seltsames Gefühl …
Und schon wieder eine ungelöste Frage mehr! Mara zwang sich dazu, mit dem Grübeln aufzuhören, und warf die Frage zu den anderen auf den riesigen Haufen. Dann atmete sie abermals tief durch und rappelte sich auf.
Nachdem sie sich an der Tischplatte hochgezogen und sich mit einem leisen Seufzer auf ihrem Drehstuhl niedergelassen hatte, stellte sie dem Zweig noch einmal dieselbe Frage.
»Wer ist dieser Mann und was hat er getan?«
Hoffentlich hatte der geheimnisvolle Auftraggeber dem Zweig wenigstens das mit auf den Weg gegeben. Denn wie sollte sie den Mann sonst befreien? Und das war es doch sicher, was man von ihr verlangte, oder?
Der Zweig aber schwieg und Mara spürte, wie die Angst in ihr immer stärker wurde. War der Zweig vielleicht bereits … bitte nicht, noch nicht!
Doch da ertönte endlich die inzwischen vertraute Stimme des Zweiges in ihrem Kopf und Mara beruhigte sich.
»Ganz im Gegensatz zu dir bin ich leider nicht mit der Gabe des Sehens gesegnet«, sprach er sanft. »Ich glaube auch, dass dies ein Talent ist, das nur euch Menschen vorbehalten ist.« Der Zweig seufzte. »Das ist wohl
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