Márai, Sándor
Dämmerlicht wird sich ein Schatten über die besonnte Szenerie des Lebens legen; was gestern unter deiner Hand noch tadellos und akkurat zusammenstand, kann heute schon zu Schutt zerfallen, was gestern tiefe Empfindung, eine innige Verbundenheit war, ist heute zähflüssiger Brei und Last, was gestern noch voll Schwung daherkam, rafft sich am Morgen danach gerade noch zu müdem Schlurfen auf! Dem Schicksal ins Auge sehen, das dem Rhythmus des Lebens ausgleichend entgegenwirkt. Der furchtbare, verwirrende Augenblick, wenn ganz ohne »Grund«, ohne einen »Fehler« die Balance des Lebens kippt, rund um deine Person nichts bleibt als ein rauchender Trümmerhaufen und über dir der graue Himmel und stumme Götter! Wohin strebst du so anmaßend und stolz, du Tor? Verneige dich und antworte ruhig: »Dem Schicksal entgegen, dem Schicksal entgegen.«
DOPING
Soll ich mit dir gehen, abends um sieben, die Drei-kleinenFerkel ansehen? Gut, ich komme mit. Und überhaupt, wie du siehst, bin ich schon ganz ergeben.
Doch glaube nur nicht, dass diese Ergebenheit dir gilt. Ich füge mich, weil du mir leid tust. Du tust mir leid, weil auch du – wie die ganze Welt, wie die Zypressen und der Vesuv, wie die Betäubung oder das Aspirin, wie die Sterbenden oder der Regen, wie all das – nur Doping bist für mich, künstliche Droge, mit der ich mich zu meinem ewigen Wettstreit rüste.
SOUVENIR
Durchgefroren kam ich heim in der Nacht und verlangte vor dem Schlafengehen ein heißes Bad. Während sich das dampfende Wasser in die Wanne ergoss, ging mir durch den Kopf, dass immer jenseits der gezähmten Natur auch eine andere noch ihre Zähne zeigt, die echte, die wir schon fast vergessen haben – in diesem frostigen nächtlichen Augenblick schwimmen Walrosse und Wale unter den Eisschollen des Nordmeers, auf den Schneefeldern gehen im Mondschein mächtige Eisbären auf Jagd. All das ist zeitlos, ohne Kalender, ohne Weihnachten, und es gibt keinen Grund und auch keine Anzeichen dafür, dass sich daran etwas ändern wird. Irgendwo ist noch die Unendlichkeit mit wirklicher Kälte, wirklicher Hitze und vielleicht sogar den passenden Menschen dazu. Plötzlich empfand ich Heimweh.
NIZZA
Nach Nizza sollte man im Winter reisen, erst nachdem man Großvater und beruflich etabliert ist. Man muss dann auf der Englischen Promenade sitzen, über den Liberalismus nachsinnen und redlichen Geschäftspartnern Ansichtskarten schreiben. Nizza ist die schönste Winterkulisse bürgerlicher Arriviertheit. Das Meer gibt sich hier sanft; ganz so, wie die Ansichtskarten von Nizza es zeigen. In den Kartenzimmern wird Whist gespielt. Ältere Damen mit Sonnenschirmen aus lilafarbener Seide, ein Aktienpäckchen irgendeiner Southamptoner Werft für Kriegsschiffe im Ridicule, watscheln gemessen unter den verschneiten Palmen.
Abenteurer kommen zwischen zwei Coups zum Verschnaufen aus Monte Carlo herüber. Nizza ist tugendsam und alt. Könige und Königinnen, denen der Sinn nicht mehr nach Eroberungsfeldzügen steht, kommen hierher, Basler Patrizier, die wie bei der Hauptversammlung bereits am Vormittag auf der Promenade in schwarzen Gehröcken paradieren, erschöpfte Croupiers und Damen zwischen vierzig und fünfzig in der Panik beginnenden Welkens. Nizza ist im Fin de Siècle verharrt. Es ist nicht en vogue, hat aber Geld, und selbst die Kutscher sind hier Dandys. Unbedingt muss man hin; ich werde dort sein, wenn ich Großvater und arriviert bin.
BILANZ
Ich schließe die Augen und blicke geschwind auf das verflossene Jahr zurück.
Die Ernte war mittelmäßig. Gemeint ist natürlich die von mir eingebrachte. Der Roman war verhagelt, doch die verfassten Artikel im Schnitt so lala. Mein Theaterstück kam wieder nicht an. Das Rauchen habe ich mir fast abgewöhnt, bis ich merkte, dass es sich nicht lohnt, denn nächstes Jahr kommt – vielleicht doch – der Weltkrieg, und jede Vorsichtsmaßnahme, jedes Opfer wäre umsonst gewesen. Meine körperliche Verfassung hat sich nicht wesentlich geändert; jeden Morgen stelle ich fest, dass ich lebe. Darüber bin ich – immer noch – erfreut. Über den Tod habe ich nichts Neues in Erfahrung bringen können. Nur dass es ihn gibt: Davon bin ich von Jahr zu Jahr mehr überzeugt. In der Liebe habe ich erfahren, dass sie für mich eine neue Nuance bereithält, etwas, was ich bislang nicht kannte, was interessanter als das Abenteuer, aufregender als die Entführung aus dem Serail ist. Und dieses Etwas ist die Zärtlichkeit. Sehr
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