Márai, Sándor
ihn zwischendurch im Auge behält, denn es ist keineswegs ausgeschlossen, dass er sich in einem unbewachten Augenblick an der Klinke der Tür zum Salon erhängt.
SEUFZEN – BEIM SCHREIBEN EINES ROMANS
Es reicht nicht, nur das »Wesentliche« zu berichten, und es genügt auch nicht, es kunstvoll, schön, mit Inbrunst zu tun. Wenn jemand baut, kann er nicht nur den Turm hochziehen und das farbig gekachelte Bad einrichten. Auch Zwischenwände, Keller, Abort und Korridore müssen sein. Der Roman ist voll von derlei notwendigen Banalitäten. Es genügt, eine einzige wegzulassen, und der Bau stürzt ein, oder das Gebäude wird nutzlos sein.
ÜBERGANG
Sie begegneten sich im Omnibus, sprachen über den Sommer, über das neue Theaterstück. Als sie am anderen Ende der Brücke waren, merkten sie, dass sie bereits in der Sprache der Liebe redeten.
Das verwirrte sie, und sie schwiegen. Sahen sich an und staunten. Der Übergang war unmerklich geschehen, so geräuschlos und glatt wie eine Naturerscheinung. Sie sprachen gar nicht das, was sie sagen wollten, hatten ganz anderes im Sinn. Jahrelang hatten sie gar nicht aneinander gedacht. Jetzt blickten sie sich an, sahen dann durchs Fenster hinaus und staunten.
DIE GESELLSCHAFT
Wie sie zusammenlaufen, im Gesellschaftsraum, Speisesaal und im Bridgesalon, wie sie sich auf der Stelle finden, wie sie Musik hören, streng, »für ihr Geld!« – wie sie hektisch Zeitung lesen, überheblich, weil ja »eh alles gelogen« ist, wie sie einander suchen und sich aus dem Weg gehen im Zauberbann ohnmächtiger Anziehung, wie sie mit den anderen schnaufen, auch wenn sie ganz allein in ihrem Zimmer sind – und wie sie in uns, misstrauisch, gleich den Fremden spüren.
Sie reden auch über »ganz wichtige« Dinge. Aber zwischen den »wichtigen« und den »nebensächlichen« Dingen passiert etwas, das sie sich nicht vorzustellen, ja nicht einmal zu denken wagen: das Leben. Es ereignet sich in solch gelassenem Gleichmut. Und was ist es? Irgendetwas Regelmäßiges und »Nebensächliches«.
PROTEST
Wer gegen den Tod nicht mit Erfolg protestieren kann, der ist auch nicht imstande, mich wirklich zu lieben.
HAMSUN
Ich habe Hamsuns neues Buch gelesen. Es ist wieder »das Gleiche«. Der Vagabund, der sich nach Hause sehnt, aber daheim nicht existieren kann. Der Titel des Buches: Der Ring schließt sich .
Er schreibt seit siebzig Jahren »das Gleiche«, so wie das Meer mit fürchterlicher Kraft und Inbrunst stets »das Gleiche« erzählt. Nein, über eine große Handlungsvielfalt verfügt dieser Autor nicht. Doch ich will seine Stimme hören, immer, solange ich lebe, wie die Stimme der Jugend.
Politisch ist er leider unzuverlässig. Mit Abscheu wende ich mich ab von ihm, vom politisch unzuverlässigen Hamsun. Und dann gehe ich in mein Zimmer, hole sein neues Buch hervor und beginne es heimlich, hastig und mit Heißhunger zu lesen.
ZÄRTLICHKEIT
Ich bat sie, mir den am Sakko abgerissenen Knopf anzunähen. Sogleich strahlte sie mich voller Zärtlichkeit an.
Sie gehört zu der Sorte Frauen, die viel eher und gewisser zu verführen sind, wenn sie gebeten werden, einen Knopf anzunähen, als wenn man sie an die Riviera einlädt, mit dem Auto, im Dezember.
JUGEND
Ich ging an dem Haus vorüber, wo ich damals im ersten Stock ein Untermietzimmer hatte; hier verbrachte ich einen Abschnitt meiner Jugend. Ich schloss die Augen und bemühte mich, meine Erinnerungen hervorzukramen. So viel habe ich zusammengebracht:
»Vor zwanzig Jahren wohnte ich da, war noch ein Fuchs an der Uni und ziemlich mager. Für ein und dasselbe Blatt habe ich Reportagen, aber auch erbauliche Gedichte geschrieben. Von daheim bekam ich reichlich Geld, trank jeden Abend französischen Cognac und habe auch oft gehungert. Die Bude war voller Wanzen. Ich verliebte mich in eine Ärztin, fühlte mich aber in ihrer Gesellschaft nicht wohl. Hochmütig war ich und schwärmerisch. Im Nachbarzimmer wohnte ein junger Mann mit seinem kleinen Sohn, ein Schauspieler, dem gerade die Frau davongelaufen war. Einmal kam er nachts zu mir herüber, hat viel geredet und am Ende geheult. Ich war nervös und hochfahrend, stellte irgendwie überzogene, unerfüllbare Ansprüche an Menschen und Erscheinungen. Nächtelang habe ich in einem Club mit Falschspielern Skat geklopft und dort gleich auf einer Chaiselongue übernachtet – zwischen stinkenden Aschenbechern, mit wirrem Haar und fahlem Gesicht, Rilke-Gedichte in der Tasche. Ich war achtzehn. So
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