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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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begann meine Jugend.«
    HYMNE
    Das Wasser, die Erde, die Sonne, die Wolken!
    Der Wein, das Blut, der Kuss und die Träume!
    Das Gras, der Stein, die Sonnenblumen!
    Tagesanbruch! Sonnenuntergang!
    Rohrpfeifenflöte im Schilf! Erwachen!
    Bachmusik! Ein Leichnam auf der Popráder Straße!
    Morgendämmerung, die Vögel, die Gedichte!
    Tote! Nebel! Das Meer im Herbst!
    Die Art, wie sie die Hand gehoben hat!
    Der Geschmack ihrer Tränen! Die Wunde auf meinem Mund!
    O, Amen, Amen, Amen, Amen!
    DIE UNTERSCHIEDE
    Hier, auf dieser Erde, lebe ich und bin gekränkt. Das Jahrhundert, in dem ich gelebt habe, ist eine Epoche des Fortschritts und der Vernunft; so hat man verkündet. Ich suche das Wort, das für den Grund meiner Kränkung steht. Sämtliche Wörter, die meinen Ekel, meine Verzweiflung begründen könnten, habe ich geprüft; sie alle erwiesen sich als zu schwach. Vielleicht lässt sich sagen: Ich bin gekränkt, weil das Jahrhundert, in dem ich lebte, ohne Anspruch und ohne Inbrunst war. Anspruchslos wie kaum eine Epoche zuvor; leidenschaftslos wie noch zu keiner Zeit in der Menschheitsgeschichte. Mir tut sie weh, diese Anspruchslosigkeit, die für das Jahrhundert so bezeichnend ist. Der Troglodyt in seiner Höhle wollte etwas, hatte Absichten; er besaß keinen Kühlschrank, verstand nichts von organischer Chemie, aber er hat den Gott erfunden und das erste Rechtssystem. Ich kann mir einen alten assyrischen oder babylonischen Richter oder Soldaten vorstellen, der ruchlos, grob und launisch ist; aber selbst seine Rechtsverstöße und Gräueltaten sind durchdrungen von der inbrünstigen Überzeugung, dass er Mensch ist. Die Inbrunst vermisse ich bei meinen Zeitgenossen. Zu keiner Zeit hat der Mensch sich so gering geschätzt. Meine Jugend fiel in die Zeit, da man die großartigen Erfindungen des Jahrhunderts, das Radio, das Flugzeug, vervollkommnet hat, da man anfing, Atome zu zertrümmern. Ein ganz neuer Sagenkreis begann; zumindest habe ich das als Kind so empfunden. Doch als ich ins Mannesalter kam, musste ich erfahren, dass lediglich ein neuer Vandalismus angebrochen war, der barbarischste unter allen; ein Vandalismus mit zischendem Donnerkeil, der auch häusliche Dienste versah, mit der Wasserspülung des Klosetts, dem Serum gegen Diphtherie; und alle diese Wunder hat irgendeine blinde Gleichgültigkeit zu nutzen gewusst. Ich bin keineswegs davon überzeugt, dass Leonardo da Vinci oder Pascal sich so und so verzweifelt von ihren Familien, ihrer Klasse und Umgebung unterschieden haben wie herausragende Geister unserer Zeit. Da Vinci war »nur« ein Genie, doch in seinem Geschmack und in der inbrünstigen Leidenschaft derselbe wie sein Vater und seine Enkel. Huxley, der Biologe, schreibt, dass der große Geist sich heute vom Durchschnittswesen unterscheidet wie einstmals der Mensch vom Tier.
    FEGEFEUER
    Die Zeit, dieses Purgatorium, das aus den Menschen all das heraussaugt, was allzu irdisch, rivalisierend und gefährlich in uns war.
    Die »Literatur« und das »Leben« verschmelzen nach und nach in diesem Fegefeuer. Die Literatur steht nicht mehr so streng fachlich für sich, die Grenzen verschwimmen, fließen ineinander; nicht hie Buchstaben, da Leben, da Stil und dort Handlung. Irgendwie sind beide ein und dasselbe; jedes für sich hat nichts Spektakuläres mehr.
    TÖMÖRKÉNY*
    Hinter seinen dahintrottenden Sätzen steigt Staub der Puszta auf; er schreibt in einer Wolke von Staub, einsam, unter Russen und Deutschen, die Pfeife im Mund, einsilbig, aber so, als sähe er auch die Toten, wie die Hellseherin von Novaj, als wüsste er alles vom Menschen, selbst das Geheimnis der Grube und der Verwesung, als würde er aus den Eingeweiden wahrsagen über das Leben und den Tod, grausam und gleichgültig, wie Hirten und Schamanen es tun.
    DIE SCHRIFTSTELLER
    Früher lebten sie einsam und scheu, wie Alchimisten. Jetzt treten sie in Scharen auf, mit Abzeichen am Revers und mit allerlei Auszeichnungen um den Hals.
    In ihren Werken tragen sie Storys vor, interessante Geschichten mit möglichst knappen beschreibenden Details, in Prosadialogen. Ihre Geschichten sind durchweg »menschlich«, ja. (Stendhals, Tolstois, Gides Geschichten sind nicht »menschlich«, aber literarisch. Das ist nicht dasselbe.)
    Sie wissen schon vorzüglich zu formulieren. Der Leser ruft erstaunt aus: »So hab auch ich empfunden, genauso!« Doch ich höre lieber meiner Tante, der guten Tante Helga, zu, aus der die menschlichen Geschichten nur so

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