Marco Polo der Besessene 1
Unterhalt des Familienpalazzo zu sorgen. Erst nach Nono Andreas Tod juckte es Nicolo und Mafio, selbst auf Reisen zu gehen; als sie dann jedoch wirklich aufbrachen, führte diese Reise sie weiter in die Fremde als je einen Polo zuvor.
Als sie im Jahre 1259 von Venedig aus in See stachen, war ich fünf Jahre alt. Mein Vater hatte meiner Mutter gesagt, sie wollten nur bis Konstantinopel segeln, um ihren lange in der Ferne weilenden Bruder zu besuchen. Doch wie eben dieser Bruder meiner Mutter schließlich berichtete, nachdem sie für einige Zeit bei ihm gewesen waren, setzten sie es sich in den Kopf, weiter gen Osten vorzudringen. Sie hörte nichts Weiter von ihnen, und nachdem zwölf Monate vergangen waren, kam sie zu dem Schluß, sie müßten den Tod gefunden haben. Dabei handelte es sich nun nicht nur um das Gerede einer verlassenen und gramgebeugten Frau, sondern um eine höchst naheliegende Mutmaßung. Denn gerade im Jahre 1259 trugen die barbarischen Mongolen, nachdem sie den Rest der östlichen Welt erobert hatten, ihren unaufhaltbaren Vormarsch bis vor die Tore Konstantinopels. Während jeder andere weiße Europäer vor der ›Goldenen Horde‹ zitterte oder floh, hatten Mafio und Nicolo die Torheit besessen, geradenwegs auf ihre vorderste Linie zuzugehen -oder, wenn man bedenkt, in welchem Ruf die Mongolen damals standen, sollte man vielleicht besser sagen: in ihre geifernden und alles zermalmenden Kiefer.
Wir hatten allen Grund, die Mongolen als Ungeheuer zu betrachten, oder etwa nicht? Diese Mongolen waren etwas mehr als menschlich und etwas weniger als menschlich, oder? Mehr als menschlich, was ihre Kampfkraft und ihre körperliche Ausdauer betrifft. Und weniger als menschlich in bezug auf ihr ungebärdiges und blutrünstiges Wesen. Selbst ihre tägliche Nahrung sollte aus übelriechendem rohen Fleisch und ekelerregender Stutenmilch bestehen. Außerdem wußte man, dass in einer berittenen mongolischen Armee, wenn ihr die Nahrung ausging, ungesäumt gelost und jeder zehnte gemeine Reitersmann abgeschlachtet wurde, auf dass er dem Rest zur Nahrung diene. Auch war bekannt, dass die mongolischen Krieger nur die Brust mittels Lederkoller schützten, niemals jedoch den Rücken; damit sie, falls sie also doch einmal Feigheit überkam, nicht Reißaus nehmen und dem Gegner den Rücken kehren konnten. Bekannt war auch noch, dass die Mongolen ihre Lederkoller mit Fett einrieben, welchselbiges Fett sie dadurch gewannen, dass sie ihre menschlichen Opfer so lange kochten, bis das Fett abzuschöpfen war. All dies wußte man in Venedig und wurde erzählt und mit schreckensleisen Stimmen abermals erzählt; und manches von dem, was erzählt wurde, stimmte sogar.
Ich war zwar, wie schon gesagt, gerade erst fünf Jahre alt, als mein Vater fortging, jedoch schon imstande, die allgemeine Furcht vor den Wilden aus dem Osten nachzuempfinden, kannte ich doch bereits die sprichwörtliche Drohung: »Wenn du nicht brav bist, holen dich die Mongolen« oder: »Dann holt dich die orda\« Diese Worte hatte ich meine ganze Kindheit hindurch genauso zu hören bekommen wie jeder andere kleine Junge, wenn er ermahnt werden mußte. »Wenn du dein Essen nicht aufißt, holt dich die orda. Wenn du nicht augenblicklich ins Bett gehst...' Wenn du nicht aufhörst, solchen Lärm zu machen...'« Mütter und Kindermädchen dieser Zeit drohten mit der orda, wie sie ihren ungezogenen Kindern früher mit dem: »Dann holt dich der Orkus!« gedroht hatten.
Der Orkus ist jener schwarze Mann, mit dem Mütter wie Ammen zu allen Zeiten auf gutem Fuß gestanden haben, und so fiel es ihnen in Venedig nicht schwer, Orkus durch orda -Horde -zu ersetzen, zumal die Mongolenhorde als Ungeheuer viel wirklicher und furchteinflößender war als der Herr der Unterwelt; drohten sie mit dieser, brauchten die Frauen nicht so zu tun, als zitterten sie vor Angst. Allein der Umstand, dass sie das Wort kannten, beweist, dass sie allen Grund hatten, die orda genau so sehr zu fürchten wie die Kinder. Denn schließlich handelte es sich um das eigene Wort der Mongolen -furtu oder Jurte -, was ursprünglich soviel bedeutete wie das pavillonhafte Zelt des Anführers in einem mongolischen Zeltlager, in leicht abgewandelter Form in alle europäischen Sprachen Eingang fand und das ausdrückte, woran die Europäer bei dem Begriff Mongolen dachten, nämlich an eine ungeordnet vorrückende Reiterschar, eine durcheinanderwurlende Menschenmenge, einen Schwärm, dem man nichts
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