Marco Polo der Besessene 1
stellte mich dem Maistro der Schule vor und überreichte ihm sämtliche mit meiner Geburt sowie der Eintragung meines Namens in das Libro d'Oro in Zusammenhang stehenden Dokumente. Libro d'Oro oder ›Goldenes Buch‹ ist der volkstümliche Name für jenes Protokollbuch, in dem die Republik Urkunden über sämtliche Ene-Aca-Familien der Stadt aufbewahrt. Fra Varisto, ein sehr gedrungener und abschreckend aussehender Mann in wallenden Gewändern, schien alles andere als beeindruckt von den Dokumenten. Er warf einen Blick hinein und schnaubte nur verächtlich: »Brate«, eine nicht besonders höfliche Bezeichnung für einen Slawen oder Dalmatiner. Meine Mutter setzte dem ein sehr damenhaftes Naserümpfen entgegen und murmelte: » Venezian nato e spua.«
»In Venedig gezeugt und geboren, vielleicht«, brummte der Mönch. »Doch in Venedig erzogen noch nicht. Das kann man erst von ihm behaupten, wenn er die rechte Schulung durchstanden und harte Zucht ihm den Rücken gestärkt hat.«
Fra Varisto griff nach einem Federkiel und rieb mit seinem angespitzten Ende über die glänzende Kopfhaut seiner Tonsur
-wie ich vermute, um die Spitze ein wenig einzufetten; erst dann tauchte er sie in ein Tintenfaß und schlug ein gewaltiges Buch auf. »Tag der Firmung?« fragte er, »der ersten Kommunion?«
Meine Mutter gab ihm Bescheid und fügte mit einigem Hochmut hinzu, mir sei es nicht, wie den meisten Kindern, erlaubt worden, meinen Katechismus nach der Firmung zu vergessen; vielmehr könne ich ihn auch heute noch auf Verlangen ebenso hersagen wie das Glaubensbekenntnis und die Zehn Gebote und das Vaterunser. Der Maistro stieß einen Grunzlaut aus, nahm jedoch keine weitere Eintragung in dem großen Buch vor. Daraufhin stellte meine Mutter ein paar Fragen: über den Stundenplan, die Prüfungen und Belohnungen für gute
Leistungen sowie über Strafen bei Versagen und... Alle Mütter, die ihren Sohn zum ersten Mal in die Schule bringen, erfüllt vermutlich ein nicht geringer Stolz, gleichzeitig jedoch auch ein gewisses Maß an Argwohn und sogar Trauer, überantworten sie doch ihre Sprößlinge einer geheimnisvollen Institution, zu der sie niemals Zutritt haben. Mit Ausnahme von künftigen Nonnen erhält fast keine einzige Frau irgendeine schulische Ausbildung. Infolgedessen begibt sich ihr Sohn, kaum dass er seinen Namen schreiben kann, gleichsam mit einem Satz in einen Bereich, wo er ihrem Zugriff für immer entzogen ist.
Fra Varisto erklärte meiner Mutter geduldig, ich würde im richtigen Gebrauch meiner Muttersprache ebenso unterrichtet wie in Handelsfranzösisch, außerdem würde ich Lesen und Schreiben und Rechnen lernen; die Grundzüge des Lateinischen würden mir mit Hilfe des Timen des Donadello beigebracht, die Grundbegriffe von Geschichte und Kosmographie nach dem Alexanderbuch des Callisthenes, sowie Religion aufgrund von biblischen Geschichten. Meine Mutter stellte jedoch eine solche Menge ängstlicher anderer Fragen, dass der Mönch schließlich in einem Ton zwischen Mitleid und Verzweiflung erklärte:
»Dona e Madona, der Junge wird schließlich nur in die Schule aufgenommen und soll nicht den Schleier nehmen. Eingemauert wird er ja nur tagsüber. Den Rest der Zeit soll er Euch nicht genommen werden.« Sie behielt mich für den Rest ihres Lebens, doch der dauerte nicht mehr lange. Infolgedessen bekam ich die Drohung »Dann holen dich die Mongolen« nur in der Schule von Fra Varisto und daheim von der alten Zulia zu hören. Diese Frau war nun wirklich eine Slawin und stammte aus irgendeinem Nest im hintersten Winkel Böhmens; sie war offensichtlich bäuerlicher Herkunft, denn sie ging stets wie eine Waschfrau, die mit einem Eimer Wasser in jeder Hand dahergewatschelt kam. Seit meiner Geburt war sie die Zofe meiner Mutter gewesen. Nach dem Tod meiner Mutter übernahm Zulla ihre Stelle als Kindermädchen und Aufseherin und wurde fortan mit dem Ehrentitel Zia -Tante - angeredet. Bei der Aufgabe, mich zu einem anständigen und verantwortungsbewußten jungen Mann heranzuziehen, ließ Zia Zulia -abgesehen von der häufigen Anrufung der orda -nicht sonderlich viel Strenge walten, hatte aber, wie ich gestehen muß, bei ihren Bemühungen auch nicht viel Erfolg.
Zum Teil lag das daran, dass mein Namensvetter, Onkel Marco, nach dem Verschwinden seiner beiden Brüder nicht nach Venedig zurückgekehrt war. Er hatte zu lange in Konstantinopel gelebt und fühlte sich dort zu wohl, obgleich das Lateinische Kaiserreich
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