Marco Polo der Besessene 1
entgegensetzen konnte, eine Horde.
Ich jedoch sollte diese Drohung von meiner Mutter nicht mehr lange zu hören bekommen. Sobald sie sich zu der Überzeugung durchgerungen hatte, dass mein Vater tot sei und nicht wiederkommen werde, fing sie an zu kränkeln, dahinzusiechen und immer schwächer zu werden. Als ich sieben war, starb sie. Mir ist nur eine Erinnerung an sie geblieben, und diese stammt von einem Tag wenige Monate vor ihrem Tod. Dass sie es das letztemal wagte, den Fuß vor die Casa Polo zu setzen, ehe sie dann nur mehr das Bett hütete, um sich nie wieder daraus zu erheben, geschah an dem Tag, da sie mich begleitete, um mich zum ersten Mal in die Schule zu bringen. Ja, wahrhaftig, obgleich dieses Ereignis noch in das vorige Jahrhundert fällt und nahezu sechzig Jahre her ist, steht es mir sehr deutlich in der Erinnerung.
Unsere Casa Polo war damals ein kleiner Palazzo am Stadtrand von Venedig, und zwar im Viertel San Felice. Im hellen Licht der Morgenstunde mezza-terza traten meine Mutter und ich hinaus auf die katzen-kopfgepflasterte, neben dem Kanal verlaufende Straße. Unser alter Ruderer, der schwarze nubische Sklave Michiel, wartete bereits mit unserem batelo, das er an dem rotgeringelten Pfosten vertäut hatte; das Boot war zur Feier meiner Einschulung frisch gewachst worden und blitzte in allen Farben. Meine Mutter und ich stiegen ein und nahmen unter dem Baldachin Platz. Auch ich selbst war für die Gelegenheit fein herausgeputzt worden und trug, wie ich mich sehr wohl erinnere, einen neuen Rock aus brauner Lucca-Seide sowie eine Kniehose mit ledernem Gesäßteil. Weshalb sich der alte Michiel die ganze Zeit über, da er uns den schmalen Rio San Felice hinunterruderte, nicht halten konnte vor Bewunderung und immer wieder ausrief: »Che zentilomo!« und »Dasseno, xestu, Messer Marco?« - was soviel bedeutete wie: »So ein feiner Herr« und »Wahrlich, seid Ihr das, Messer Marco?« Diese ungewohnte Bewunderung erfüllte mich zugleich mit Stolz wie mit Unbehagen. Auch ließ er sich nicht davon abbringen, bis er schließlich das batelo in den Canale Grande hineinlenkte, wo der starke Bootsverkehr seine ganze Aufmerksamkeit erforderte.
Es war ein Tag, wie er schöner in Venedig nicht sein kann. Die Sonne schien, doch lag das Licht in einer Weise über der Stadt, dass alle Umrisse aufgelöst wurden und verschwammen. Dabei lag kein Nebel überm Meer und über der Stadt kein Dunst; die Kraft des Sonnenlichtes wurde also in keiner Weise beeinträchtigt. Vielmehr schien die Sonne nicht gerade Strahlen zu versenden, sondern auf durchsichtigere Art zu schimmern, so wie Kerzen schimmern, wenn sie auf einem Leuchter mit vielen geschliffenen Kristallen entzündet werden. Jeder, der einmal in Venedig gewesen ist, kennt dieses besondere Licht: Als ob Perlen zerstoßen und zu Pulver geworden wären perlenfarbene Perlen vor allem, aber auch rosafarbene und bläulich überhauchte -, und dieses Pulver dermaßen fein zermahlen, dass die Staubteilchen zwar in der Luft schwebten, gleichwohl jedoch das Licht nicht beeinträchtigten, sondern es womöglich noch leuchtender und gleichzeitig noch weicher machten. Auch kam das Licht nicht vom Himmel allein her. Es wurde von den Kanälen zurückgeworfen und tanzte auf den Wellen, so dass die perlenfarbenen Sonnenkringel und -tupfer überall auf Mauern und Wänden aus altem Holz, Ziegeln und Bruchsteinen hüpften und Haschen spielten und diese rauhen Oberflächen gleichfalls weicher machten.
Diesem Tag eignete ein besänftigendes rosiges Erglühen wie
einer Pfirsichblüte. Unser Boot glitt unter der einzigen Brücke des Canale Grande dahin, dem Ponte Rialto -der alten, niedrigen Pontonbrücke, deren Mittelteil seitlich schwenkbar war; sie war noch nicht als die hochgewölbte Brücke wieder erbaut worden, die sie heute ist. Sodann kamen wir an der Erbaria vorüber, dem Markt, den junge Männer nach durchzechter Nacht in aller Herrgottsfrühe aufsuchen, um dort durch den Duft von Blumen, Kräutern und Früchten wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Gleich darauf verließen wir den großen Kanal wieder und bogen in einen schmaleren ein, wo meine Mutter und ich beim Campo San Todaro ausstiegen. Um diesen Platz herum waren sämtliche Abc-Schulen der Stadt gelegen, und um diese Stunde herrschte dort ein lustiges Treiben von Knaben aller Altersgruppen, die hier spielten, liefen, durcheinanderplapperten und rauften, während sie darauf warteten, dass der Schultag begann.
Mutter
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