Marco Polo der Besessene 2
wahr?«
»Ich gebe dir gern die Erlaubnis. Aber du würdest mir fehlen. Was immer ich zuvor gesagt haben mag -ich würde dich schrecklich vermissen. Aber trotzdem -auch ich halte, was ich einmal versprochen habe.«
»Das tust du in der Tat. Ja. Und jetzt, wo du davon sprichst, vielleicht sollte ich einmal darüber nachdenken. Nach Fantinas Hochzeit. Ich könnte doch fortgehen -oh, nichts weiter als auf eine kurze Reise, um wieder hier zu sein für Bellelas Hochzeit. Vielleicht nur bis Konstantinopel, um den alten Cuzìn Nico wiederzusehen. Ja, vielleicht tue ich das. Jedenfalls, wenn es
meinem Rücken wieder bessergeht.«
»Du hast wieder Kreuzschmerzen? O weh!«
»Niente, niente. Ein Stechen ab und zu, weiter nichts. Jedenfalls nichts, worüber man sich Sorgen machen müßte. Ach, weißt du, meine Liebe, einmal, in Persien, und dann nochmals, in Kurdistan, da mußte ich auf ein Pferd steigen -nein, das erste Mal war's ein Kamel -und mußte reiten, was das Zeug hielt, obwohl mir einer der Briganten fast den Schädel mit der Keule eingeschlagen hatte. Vielleicht habe ich dir schon davon erzählt, aber…«
»Ja.«
»Ja. Nun, ich danke dir jedenfalls für den Vorschlag, Donata. Wieder auf Reisen gehen. Ich muß mir das wirklich überlegen.«
Ich ging nach nebenan, in die Kammer, in die ich mich zurückzog, wenn ich mir Arbeit mit nach Hause brachte, und sie muß gehört haben, wie ich herumkramte, denn sie rief durch die Tür:
»Wenn du eine deiner Landkarten suchst, Marco, die hast du alle im fondaco der Compagnia untergebracht.«
»Nein, nein. Ich such nur nach Papier und einer Feder. Ich sollte meinen letzten Brief an Rustichello zu Ende schreiben.«
»Warum setzt du dich dazu nicht in den Garten? Es ist ein schöner stiller Nachmittag. Du solltest hinausgehen und es genießen. Es wird nicht mehr viele solcher Tage geben, ehe es Winter wird.«
Als ich nach unten ging, sagte sie: »Die jungen Männer kommen heute zum Abendessen. Zanino und Marco. Deshalb ist Nata in der Küche so beschäftigt und deshalb hat sie dich wahrscheinlich so kurz abgefertigt. Da wir Gäste haben können wir nicht ein kleines Abkommen schließen? Nichts von unserem Streit bei Tisch stören lassen?«
»Keinen Streit mehr, Donata - weder heute abend noch jemals. Es tut mir von Herzen leid, welchen Grund zum Streit ich auch immer gegeben habe. Wie du sagst, laß uns in Ruhe die Tage genießen, die uns noch bleiben. Alles, was vorher war -nichts davon spielt noch eine Rolle.«
So trug ich meine Schreibsachen hinaus in den kleinen Hof am Kanal, den wir unseren Garten nennen. Dort habe ich Chrysanthemen anpflanzen lassen, die Blumen von Manzi. Ich habe sie aus Samen gezogen, die ich von dorther mitgebracht habe, und das Gold, das Feuer und die Bronzetöne der Blüten verleihen der weichen Septembersonne etwas Verwegenes. Gleitet bisweilen eine gòndola vorüber, lenkt der Condoliere sein Boot nahe heran, damit seine Fahrgäste die exotischen Blüten bewundern können, denn die meisten der anderen Gärten und Fensterkästen in Venedig bergen Sommerblumen, die um diese Jahreszeit längst vergilbt sind und welk herunterhängen. Langsam und vorsichtig, um keine Kreuzschmerzen zu riskieren, nahm ich auf dieser Bank Platz, hielt das gerade eben geführte Gespräch fest, und jetzt habe ich schon eine ganze Zeit nur dagesessen urd nachgedacht.
Es gibt das Wort asolare, das zuerst hier in Venedig geprägt wurde, doch inzwischen in den Sprachbesitz der gesamten italienischen Halbinsel übergegangen ist. Es ist ein gutes und nützliches Wort, asolare-es heißt, in der Sonne sitzen und absolut gar nichts tun -all dies in diesem einen Wort. Nie in meinem ganzen Leben hätte ich gedacht, daß es jemals auf mich passen könnte. Das hat es den größten Teil meines Lebens über weiß Gott nicht getan. Doch jetzt, wenn ich nachdenke -über diese turbulenten Jahre, die endlosen Reisen, die Meilen und farsakhs und li voller Erlebnisse, über die Freunde und Feinde und diejenigen, die ich liebte, die eine Zeitlang zusammen mit mir gereist sind und dann irgendwo unterwegs verlorengingen -, von allen diesen Dingen erinnere ich mich jetzt an eine Regel, die mein Vater mir vor langer, langer Zeit eingebleut hatte, damals, als ich zuerst mit ihm unterwegs war. Er hat gesagt: »Wenn du dich jemals in der Wildnis verirrst, Marco, geh immer hügelabwärts. Immer hügelabwärts, dann wirst du schließlich auf Wasser stoßen und schließlich an einen sicheren,
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