Marco Polo der Besessene 2
Alter stand mein Vater und sogar mein umnachteter Onkel, als sie die lange und überaus strapazenreiche Rückreise von Khanbalik nach Venedig antraten. Doch so alt ich auch bin, ich bin nicht hinfälliger als sie damals. Vielleicht würden sogar meine Kreuzschmerzen weggehen, wenn ich im Sattel bei einem langen Ritt tüchtig durchgestaucht würde. Ich glaube, es ist nicht körperliches Unvermögen, das mich davon abhält, wieder auf Reisen zu gehen. Vielmehr nagt der schwermütige Verdacht an mir, all das Beste und Schlimmste und Interessanteste gesehen zu haben, was man sehen konnte. Und daß alles, was ich zu sehen bekommen würde neben dem, was ich schon gesehen hatte.
Selbstverständlich könnte ich hoffen, auf irgendeiner Straße in irgendeiner Stadt in Kithai oder Manzi völlig überraschend wieder einer wunderschönen Frau zu begegnen -genauso, wie ich hier in Venedig ja Donata begegnet war -, einer Frau, die mich unwiderstehlich an eine andere Frau erinnern würde, die längst dahin ist… Ach, um dieser Chance willen würde ich noch einmal auf Reisen gehen, notfalls auf Händen und Knien, bis ans Ende der Welt. Doch das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Mochte eine neu kennengelernte Frau der Frau in meiner Erinnerung noch so sehr ähneln - es würde nicht dieselbe sein.
Und so bleibe ich. Io me asoló. Ich sitze im letzten Sonnenlicht des Tages, hier auf dem letzten Hang des Hügels meines langen Lebens, und tue gar nichts… außer mich zu erinnern, und der Erinnerungen habe ich viele. Wie ich vor langer Zeit am Grab von jemand anders erklärte, ich besitze eine Schatztruhe voller Erinnerungen, um die Ewigkeit damit lebendig zu machen. Ich kann diese Erinnerungen durch all die schwindenden Nachmittage genießen wie diesen, und dann durch die endlos tote Nacht unter der Erde.
Aber ich habe auch einmal zu jemand gesagt -und vielleicht mehr als einmal -, daß ich gern ewig leben würde. Und eine bezaubernde Dame hat mir einmal gesagt, ich würde nie alt werden. Nun, Luigi, vielleicht geschieht ja beides dank dir. Ob nun der ausgedachte Marco Polo in der Verkleidung deines neuen Werkes gut aufgenommen werden wird, vermag ich nicht vorherzusagen. Doch das frühere Buch, das wir beide gemeinsam verfaßt haben, scheint sich einen unbestrittenen Platz in den Bibliotheken vieler Länder erobert zu haben, und wird so lange weiterleben, wie Menschen es lesen. Dafür danke ich dir, Luigi.
Nun, da die Sonne untergeht und das goldene Licht schwindet, schließen auch die Blumen aus Manzi ihre Blütenkelche. Der blaue Dunst steigt aus dem Kanal, so blau wie die Erinnerung. Jetzt möchte ich den Schlaf eines alten Mannes schlafen und den Traum eines jungen Mannes träumen. So leb den wohl, Rustichello aus Pisa, und so unterschreibe ich mit
MARCO POLO AUS VENEDIG UND AUS DER WELT, SEIN YIN:
GEGEBEN DEN 20. TAG DES MONATS SEPTEMBER IM JAHRE DES HERRN 1319, NACH DER ZÄHLUNG DER HAN 4017, DEM JAHR DES WIDDERS
NACHWORT
Es existieren heute nur noch sehr wenig Zeugnisse, die an Marco Polo, den Reisenden, erinnern. Etwas freilich, das er von seinen Reisen heimgebracht hat, befindet sich in der Sammlung Céramique Chinoise des Louvre: ein kleiner Weihrauchbrenner aus weißem Porzellan.
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