Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
zunächst gewünscht, dass der Traum lediglich ihrer wilden Phantasie entspringt, aber sie wusste es besser. Seine Esther, hatte Joe gesagt, und mit einem Mal konnte sie zusammenknüpfen, was bisher ein Rätsel war.
Miriam wollte am folgenden Tag mit Joe sprechen, aber er fieberte bereits. Angeblich hat er nie etwas gewusst über diese grausame Tat, die Miriam wohl von nun an für immer mit diesem Tal verbinden wird. Die Nachforschung beim Pfarrer hat ergeben, dass es stimmt. Eine Esther Weinlaub liegt auf dem Dorffriedhof. Sie muss die Schwester von Miriams Mutter gewesen sein, denn auch Hannah hieß ursprünglich Weinlaub. Sie hatte eine ältere Schwester namens Esther, die als junges Mädchen an der Musikhochschule in München studiert hat, um Pianistin zu werden. Wie viele Juden war sie spurlos im Krieg verschwunden – bis zu der dramatischen Nacht zu Santa Lucia, von der fast jeder im Dorf seine eigene Version zu berichten hatte. Tatsache ist, Miriams Tante ist ein gefürchteter Geist in dieser Gegend. Vielleicht auch deswegen hat es sich der Cowboy anders überlegt, denn den Ring hat sie nie zu sehen bekommen; dafür hat er Miriam die letzten Wochen gemieden.
Miriam seufzt auf ihrer Mauer vor der Kirche, denn Joe ist zu spät. Und wird vielleicht auch gar nicht kommen. Es läutet gerade elf, und es bleibt nicht mehr viel Zeit für ihre Aussprache. Miriam hat Termine, aber nicht nur das, sie hat auch zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Geld. Der Musikproduzent aus dem Einkaufsparadies hat seinen Weg über Joes Freunde zu Miriam in die Berge gefunden, und eine knappe Stunde später war alles Notwendige besprochen. Miriam hat einen Vertrag unterzeichnet, einen in ihren Augen gewaltigen Vorschuss bekommen und vereinbart, dass Jörg sie mit den Kindern am Tag der Heiligen Drei Könige abholen lassen würde. Der Mann hat versprochen, für Miriam und die Kinder zu regeln, wovor sie am meisten Angst hatte. Das Jugendamt, die Polizei und ihre vielen Schuldner will er in den Griff bekommen. Um zu beweisen, was er draufhat, bekam Jörg, wie Miriam ihn ab jetzt nennen sollte, zwischen Weihnachten und Silvester erstaunlich viel geregelt. Er hatte sogar das Bett von Anna-Sophie, das mit in dem Umzugswagen mit ihren Sachen war, ausgelöst und hierher bringen lassen. Der Mann ist ein Wunder, und Miriam braucht ein Wunder. Sie will nicht undankbar sein, aber trotzdem tut es ihr in diesem Moment irgendwie weh, dass ihr Wunder lediglich beruflicher Natur ist. Ihr neuer Musikproduzent hat jede Menge Erwartungen. Innerhalb eines Jahres will er Miriam und die Kinder zu neuen Stars der deutschen Volksmusik aufbauen. Miriam hatte versucht, mit Joe bei verschiedenen Gelegenheiten über Jörgs Angebot zu reden, aber der Cowboy hatte die Stube verlassen, als hätte sie ihm ein unanständiges Angebot gemacht. Miriam vermutet Künstlerneid.
Zehn nach elf. Kalt wird es ihr jetzt auf der Mauer, und wahrscheinlich sollte sie Joe heute gar keine Möglichkeit mehr geben, sie erneut in ein Tief zu stürzen. Doch zwischen ihnen sollte beim Abschied alles klar sein. Miriam hat bereits mit Joes Eltern gesprochen, denn sie hat den Stadlers viel zu verdanken und möchte den Kontakt unbedingt auch in Zukunft halten. Auch als Miriam explizit darauf bestanden hat, wollten Hilla und Ernst kein Geld annehmen. Dabei hasst sie das Gefühl, jemandem etwas schuldig zu sein. Sie beabsichtigt, dem Cowboy bei ihrem Abschied jeden Cent zurückzugeben. Das Geld war so wesentlich für ihn, und in dem braunen Umschlag in ihrer Handtasche sind fünfhundert Euro für Mollys Fahrten und andere Ausgaben, die er ihretwegen hatte.
Nachdenklich sieht Miriam in die Richtung, aus der Joe kommen müsste, während sie dem Singen in der Kirche zuhört. Der Chor singt ein bayerisches Winterlied, und Miriam muss daran denken, wie sie an Joes Hals riechen musste, weil sie ihm einfach nicht widerstehen konnte. Es wäre ein schöner Auftakt für eine Liebe gewesen. Doch was hat er getan? Statt sie ganz einfach zu küssen, musste er fragen, ob ihre mangelnde Beherrschtheit mit ihren Hormonen zu tun habe. Unverschämtheit! Nein, Miriam sollte sich wirklich keinen weiteren Illusionen hingeben. Dieser Cowboy liebt sie ganz einfach nicht, und damit basta.
Joe sieht vom Hügel aus auf die Kirchturmuhr. Er ist spät dran und weiß, dass sie auf ihn wartet. Ein letzter Schlag mit dem großen Hammer, und dann sitzt Esthers Marterl fest in der gefrorenen Erde. Es hat sich
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