Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
Tag des Jahres sind die Türen zum Jenseits weit offen. Es ist Eile geboten. Während sie ein homöopathisches Mittel zur Stärkung von Mutter und Kind verabreicht und ein Schutzgebet spricht, wird es ihr klar. Irgendjemand muss sich um den sterbenden Mann in den Bergen kümmern. Noch ist er nicht tot. Wanda sieht Joe bisweilen schemenhaft und gläsern bei der Toten mit dem Neugeborenen im Arm. Er wandelt mit einem Zögern zwischen den Welten. Wanda sieht sein Zittern, seine geschwollene Nase und seinen nackten Oberkörper genau über sich. Und dann fallen Schneeflocken von der Zimmerdecke, die direkt auf dem Bauch der stöhnenden Miriam landen. Wanda muss Miriam so schonend wie möglich beibringen, dass ihre Seele und die des sterbenden Mannes im Schnee sich bereits verbunden haben. Er liebt Miriam. Wenn er geht, wird vielleicht auch Miriam mit dem Kind nicht bleiben können. Zwischen Miriams schwachem Stöhnen streicht Wanda ihr vorsichtig die schweißnassen Haare aus der Stirn. Die Hebamme wählt ihre Worte sorgfältig. Sie will auf keinen Fall noch zusätzliche Angst säen, sodass sie umschreibt, was nur schlecht verschleiert werden kann, denn es gibt Grund zur Besorgnis. Die Herztöne des Babys werden schwächer. Vielleicht würden sie bald in ein Krankenhaus umziehen müssen, wo die Kleine mit einem Notkaiserschnitt auf die Welt kommen könnte, wenn die Mutter keine Kraft mehr in sich findet. Miriam lächelt schwach. Seit geraumer Zeit schon hat sie das Gefühl, zwischen den Welten zu stehen, wofür sie nur eine einzige mögliche Erklärung hat: »Ich gehe jetzt für immer nach Shambala, nicht wahr?«
Ein Rauschen wie von einem Schwarm riesiger Vögel mit gewaltigen Schwingen umschwirrt den Pferdeschlitten und dröhnt dem Jungen trotz der fröhlich klingelnden Schellen am Geschirr der Pferde überlaut im Ohr. Bene leuchtet mit der Taschenlampe rechts und links der Bergstraße in die Dunkelheit, um nach Mollys Reifenspuren zu suchen. Das Rauschen kann er sich nicht erklären. Es ist nicht wirklich windig in dieser Nacht, und die verschneiten Nadelbäume stehen zu weit weg. Vielleicht ist es doch so, wie Oma Hilla gesagt hat, und in der längsten Nacht des Jahres sind die Geisterwesen unterwegs. Opa Ernst hält es für ausgeschlossen, dass sein Sohn die Bergstraße hochgefahren ist, denn sie ist derartig zugeschneit, dass selbst der alte Pferdeschlitten es schwer hat. Aber Bene erinnert sich deutlich an Joes Worte, als sie am Samstagabend mit der Schneeraupe der Nachbarn Miriam gesucht hatten. Der Cowboy hatte ihm die Bergscheune gezeigt und erzählt, wie gerne er dort immer war. Sollte er wirklich irgendwo hier draußen sein, wird Bene ihn finden. Wieder rauscht es an Bene vorbei, diesmal so nah an seinem Gesicht, dass es sich wie eine Warnung anfühlt. Ernst kann es nicht hören. Seine Ohren sind nicht wie die des Jungen, der seit dem Tod der Eltern oft auch zwischen den Welten wandert.
Kurz darauf erkennt Bene den dunklen Umriss am Straßenrand und sieht im Schein der Taschenlampe, dass die Fahrertür offen steht. Im Inneren des Wagens hat sich Schnee angesammelt, was der Cowboy nie zulassen würde, da seine Ledersitze ihm heilig sind. Bene wird übel. Er ahnt in dem wogenden Rauschen die schwarzblauen Federn der längsten Nacht. Die Todesengel sind gleich zu mehreren gekommen, um dem Cowboy die große schwarze Pforte zu öffnen.
Wanda gibt Miriam ein Schlangenmittel, um die Wehentätigkeit versuchsweise wieder anzuregen, aber Miriam fehlt die Kraft. Sie kann kaum noch nicken. Ihr Versuch, einen zusammenhängenden Satz herauszubringen, scheitert, und ihre Augenlider flattern unkontrolliert. Wanda beginnt zu verzweifeln, während sie die Öffnung des Muttermundes untersucht. Seit sie den Hof betreten hat, sind ihre Hände taub und nutzlos. Sie erzählen ihr nichts, scheinen hier keinerlei Befugnis zu haben, dem kleinen Mädchen ans Licht zu helfen. Eine fremde Kraft zieht an den Lebensfäden. Mutter und Kind scheinen unaufhaltsam in Richtung Dunkelheit zu wandern, und in ihrer zunehmenden Panik beschließt Wanda schließlich, den Notarzt anzurufen. Die Verantwortung ist zu groß. Noch nie hat Wanda eine Mutter verloren, aber einmal starb bei einer Geburt ein kleiner Junge. Die Nabelschnur war um seinen Hals gewickelt, was Wanda viel zu spät bemerkte, weil ihre Hände auch damals ihre Gabe verloren hatten. Es gibt Parallelen. Damals war das Zimmer in der eleganten Münchner Villa mit giftig fordernden
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