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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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Pflichten riefen. Ich spülte ein paar Krüge aus, die nicht gespült zu werden brauchten, und dann fragte ich sie, ob sie Wasser für mich holen würden. Ich wusste, dass sie jetzt unter sich sein wollten, und nachdem sie aus dem Haus gegangen waren, stellte ich den Stuhl wieder an die Wand und schob dann den Tisch davor. Ich wusste, dass es vielleicht an der Zeit war, meinen Ehemann zu vergessen, da ich ohnehin schon bald bei ihm sein würde. Vielleicht war es an der Zeit, diesen Stuhl dem Nichts zu übergeben, aber das würde ich an einem Tag tun, an dem es keine Rolle spielte. Ich würde seinen Bann brechen – zu gegebener Zeit.
    *
    Es sind Tage, an denen ich zwischen Dingen dieser Welt pendle, die genau, scharf und nah sind, und irgendwelchen bitteren Einbildungen. An jenen Sabbattagen, waren erst die Gebete angestimmt und war Gott gelobt und gepriesen worden, blieb immer Zeit, sich zu fragen, was wohl über uns im Himmel sein oder welch eine Welt in den Hohlräumen der Erde begraben liegen mochte. An manchen dieser Tage hatte ich, nach Stunden des Schweigens, das Gefühl, meine Mutter kämpfe sich von einem dunklen Ort aus mit ausgestreckten Händen mir entgegen, als lechze sie nach Speis oder Trank. Wenn sich die Dunkelheit über diese Sabbattage senkte, sah ich sie in einen Höhlenort zurücksinken, einen gigantischen breitmäuligen Raum; über ihr flirrte und flog es, unter ihr war das Grollen der dröhnenden Erde. Ich weiß nicht, warum ich mir das vorstellte, und es wäre leichter gewesen, sie mir vorzustellen, wie sie in der warmen Erde, in der Nähe der Orte, die sie liebte, zu Staub zerfiel. Und es fiel mir nie schwer, von diesen Grübeleien über eingebildete Orte unter der Erde auf das umtriebige Jetzt umzuschalten, auf das Hier, auf die Dinge, die stattfanden, auf die Gestalten, die im Licht des Tages zu meiner Tür kamen.
    *
    Markus aus Kana war nicht mein Vetter, auch wenn er mich seine Cousine nannte, weil unsere Mütter uns zur gleichen Zeit in angrenzenden Häusern geboren hatten. Wir spielten zusammen und wir wuchsen zusammen auf, bis es Zeit für uns wurde, getrennte Wege zu gehen. Als er zum Haus in Nazareth kam, war ich allein. Ich hatte ihn seit Jahren nicht gesehen. Ich wusste, dass er nach Jerusalem gegangen war, und ich wusste, dass er größeres Talent besaß als viele andere, die dorthin gezogen waren, und dass er von seinem Vater eine Mischung aus Scheu und Festigkeit geerbt hatte, eine Fähigkeit, Menschen zu beeindrucken, sie wenn erforderlich zu täuschen, und die Gabe, mit jedem einer Meinung und selbst völlig meinungslos zu sein – oder eine eigene Meinung zu haben und sie für sich zu behalten.
    Markus erschien an meiner Tür und setzte sich an meinen Tisch. Er wollte weder Essen noch Wasser, und er hatte etwas Neues an sich, etwas, was ich später wiedererkennen sollte, als meine Beschützer, oder meine Wächter oder was immer sie sind, in dieses Haus kamen – eine Kälte, Entschlossenheit, die Fähigkeit, Schweigen als Mittel zum Zweck einzusetzen, eine Härte um Augen und Mund, die eine Härte im Herzen erahnen ließ. Er erzählte mir, was er gesehen hatte, und prophezeite schon damals die Folgen. Er hatte das, was er sah, nicht zufällig gesehen, sagte er; einer seiner Kollegen hatte ihn aufgefordert, ihn am Sabbattag zum Teich bei dem Schaftor in Jerusalem zu begleiten, weil bekannt war, dass dies der Ort war, an dem mein Sohn und seine Freunde sich zusammenfanden. Dies war der Ort, an dem sie, in Markus’ Worten, einen Wirbel machten und einen Menschenauflauf verursachten und begannen, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
    Es gab da einen alten Narren, sagte Markus, der dort immer zwischen all den anderen lag, den Kranken, Blinden, Lahmen und Ausgezehrten, und die waren so verrückt zu glauben, dass von Zeit zu Zeit ein Engel in den Teich herabfuhr und das Wasser aufwühlte, und wer nun zuerst danach ins Wasser hineinstieg, würde gesund, an welcher Krankheit er auch leide. Und mein Sohn und seine Freunde, die jungen Männer, die er mit nach Haus gebracht hatte, waren an dem Tage dort. Markus wusste, dass sie dort waren, weil er und seine Freunde einen solchen Aufruhr veranstalteten und die Menschenmassen aufpeitschten. Sie müssen gewusst haben, sagte Markus, dass sie streng beobachtet wurden. Überall, sagte er, gab es Spione, Spitzel, Zwischenträger. Sie beobachteten ganz unverhohlen, vielleicht hing ihre Bezahlung oder Belohnung davon ab, dass man sie beim

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