Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
Zivilfahrzeuge mit Blaulicht ein, und da kamen auch die fehlenden Schwestern angerannt, Zinkel, der Bulle von gestern, sprang aus dem Wagen. Und Marilene.
Doch dies war auch nicht die Zeit für Trauer, entschied er, bis er aus der Gefahrenzone hinaus war, musste er einen sehr kühlen Kopf bewahren.
* * *
Fast zeitgleich rannten sie auf Gerrits Zimmer zu und nahmen es im Sturm: Lübben in Begleitung eines uniformierten Beamten, Hanna und Paula, und schließlich Zinkel und sie selbst, ein Sternmarsch der besonderen Art.
Olaf war fort.
Gerrit war quicklebendig. Er hielt Rebekka im Arm, deren Gesicht tränenüberströmt war.
»Sind Sie verletzt?«, fragte Lübben.
Rebekka schüttelte den Kopf. Ihr Blick suchte Hannas, fand ihn, und Marilene hörte zum ersten Mal ihre Stimme. »Ich hab alles gemacht, was du mir beigebracht hast«, flüsterte Rebekka, »außer das mit den Augen …«
Hanna zog eine Grimasse, als hätte sie sich an einer heißen Herdplatte verbrannt.
»Ich war nicht gut genug«, fuhr Rebekka fort, »ich hab’s nicht geschafft, ihn kampfunfähig zu machen und –«
Hanna schnitt ihr das Wort ab. »Alles in Ordnung«, sagte sie beruhigend, »Gerrit geht’s gut und dir auch, das ist die Hauptsache.«
Gerrit zog den Infusionsschlauch von seiner Hand ab. Da war keine Nadel, wunderte Marilene sich.
»Das war naheliegend, oder?«, beantwortete Hanna ihre nicht gestellte Frage, »Luft oder Insulin, eins von beidem. Wieso hast du nicht gewartet?«, wandte sie sich wieder an Rebekka, »du solltest nur eingreifen, wenn er eine Waffe gehabt hätte.«
»Ich konnte sehen, wie er die Spritze angesetzt hat«, flüsterte Rebekka, »da bin ich wütend geworden.«
»Und wie«, sekundierte Gerrit, »ich hab’s mitgefilmt, wollt ihr mal sehen?«
Rebekka quietschte.
»Kann mir jetzt mal irgendjemand erklären, was überhaupt passiert ist?«, bat Gerrit.
* * *
Einer der Beamten war auf dem Parkplatz geblieben, um die Kennzeichen zu kontrollieren. Sie mussten ihn für minderbemittelt halten, und das machte ihn schon wieder wütend. Er riss sich zusammen und schaute auf seine Uhr. Jetzt müssten sie eigentlich alle in Gerrits Zimmer angekommen sein, Informationen austauschen, und das konnte dauern. Er nahm den Fahrstuhl nach unten und verließ ungehindert das Krankenhaus über einen Nebeneingang, streifte am Friedhof den Kittel ab und klemmte ihn sich unter die Jacke. Sein Wagen stand, wo er ihn verlassen hatte, er vergewisserte sich, dass niemand ihn beobachtete. Er war ihnen haushoch überlegen, sie wussten das bloß noch nicht. Er stieg ein, wendete und fuhr Richtung Autobahn.
Oldenburg?, Bremen?, oder doch lieber was Ländliches? Jedenfalls nicht Wiesmoor, seine Wohnung würden sie sicherlich bereits überwachen. Aber er musste auch nicht dorthin zurück, er reiste stets mit leichtem Gepäck und hatte alles bei sich, was er brauchte, das hatte er schon immer so gehandhabt. Sein Wagen schien zwar alt und klapprig, doch tatsächlich handelte es sich um ein hochgerüstetes und vor allem hochgesichertes Fahrzeug, ein Einbrecher würde sich die Zähne daran ausbeißen.
Also wohin nun?, überlegte er. Nicht zu weit weg, er hatte hier schließlich noch eine Rechnung offen. Marilene. Aus der Traum. Dabei hatte sie gerade begonnen, sich an ihn zu gewöhnen, sich auf ihn zu verlassen, das Mindeste nach all seinen Mühen. Die Fotos zu manipulieren war wirklich aufwendig gewesen. Hatten sie ihren Sinneswandel ausgelöst? Er würde es nie erfahren, nicht bei ihr jedenfalls.
Aber, überlegte er, und plötzlich schien die Zukunft doch schon wieder recht vielversprechend, er könnte ehemalige Mitschülerinnen ausfindig machen und es bei einer von ihnen noch einmal versuchen. Bei völlig Fremden würde die Sache nicht funktionieren, das wusste er, aber wenn ein Foto plausibel schien, versuchte das Gehirn, die entsprechenden Erinnerungen beizusteuern. Das hatte er aus einem Artikel, den er irgendwo gelesen hatte. Erinnerungen sind unzuverlässig, gut, das war so neu nicht, frag drei Zeugen, und du kriegst drei verschiedene Versionen, aber Erinnerungen sind eben auch beeinflussbar.
Phantastisch, dachte er, ein neues Projekt, es gab nichts Besseres, um einen Tiefschlag zu verwinden. Das hieß natürlich keineswegs, dass er das alte darüber vergessen würde. Ganz sicher nicht. Marilene hatte nicht gelernt, ihn zu lieben. Sie musste sterben.
Mein herzlicher Dank gilt
Dem Emons-Team, das sich so sehr für mich einsetzt und
Weitere Kostenlose Bücher