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Marina.

Marina.

Titel: Marina. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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in den dritten Stock zu Doña Paulas Wohnung hinauf.
    Doña Paula war eine herzensgute Person, die immer ein Lächeln für die Internatsschüler übrighatte. Sie war seit dreißig Jahren Witwe und seit weiß Gott wie viel länger auf Diät. »Ich neige halt zum Dickwerden, wissen Sie«, sagte sie immer. Sie hatte keine Kinder und verschlang mit einem bloßen Blick auch mit ihren fast fünfundsechzig Jahren noch sämtliche Babys, denen sie auf dem Gang zum Markt in ihren Kinderwagen begegnete. Sie lebte in Gesellschaft ihrer beiden Kanarienvögel und eines riesigen Zenit-Fernsehers, den sie erst ausschaltete, wenn die Nationalhymne und die Bilder der Königsfamilie sie ins Bett schickten. Ihre Hände waren von der Lauge verschrumpelt. Wenn man die Adern ihrer aufgequollenen Knöchel anschaute, schmerzte es einen selbst. Der einzige Luxus, den sie sich zugestand, waren alle zwei Wochen ein Besuch beim Friseur und die Zeitschrift
¡Hola!
. Mit Vergnügen las sie über das Leben von Prinzessinnen und bewunderte die Kleider der Stars aus dem Showbusiness. Als ich bei ihr anklopfte, schaute sie sich gerade eine Neuinszenierung von
Die Pyrenäennachtigall
in einem Musicalzyklus mit Joselito in der »Abendvorstellung« an. Das Spektakel begleitete sie mit einer Portion Toastscheiben, dick bestrichen mit Kondensmilch und Zimt.
    »Tag, Doña Paula. Entschuldigen Sie die Störung.«
    »Oh, Óscar, mein Junge, du störst mich doch nicht. Komm nur rein!«
    Auf dem Bildschirm sang Joselito unter dem wohlwollend-entzückten Blick von zwei Zivilgardisten einem Zicklein ein Liedchen vor. Neben dem Fernseher teilte eine Sammlung von Muttergottesfigürchen die Ehrenvitrine mit den alten Fotos ihres Gatten Rodolfo, ganz Brillantine und funkelnagelneue Falangeuniform. Trotz der Verehrung ihres verstorbenen Gatten freute sich Doña Paula sehr über die Demokratie, da jetzt, wie sie sagte, das Fernsehen in Farbe sei und man auf dem Laufenden zu sein habe.
    »Ach, was für ein Lärm neulich nachts, nicht? In der Tagesschau haben sie das mit dem Erdbeben in Kolumbien gebracht, und Herr du meine Güte, ich weiß auch nicht, da hab ich plötzlich so ne Angst gekriegt …«
    »Machen Sie sich keine Sorgen, Doña Paula, Kolumbien ist weit weg.«
    »Das stimmt schon, aber dort reden sie ja auch Spanisch, ich weiß nicht, ich meine …«
    »Keine Bange, es ist ganz ungefährlich. Ich wollte Ihnen nur sagen, Sie brauchen sich nicht um mein Zimmer zu kümmern. Ich werde Weihnachten bei meiner Familie verbringen.«
    »Ach, wie schön, Óscar!«
    Doña Paula hatte mich mehr oder weniger groß werden sehen und war überzeugt, alles, was ich tue, sei goldrichtig. »Du hast echtes Talent«, sagte sie immer, obwohl sie nie genau erklären konnte, wozu. Ich musste unbedingt ein Glas Milch trinken und von ihren selbstgebackenen Plätzchen essen, obwohl ich überhaupt keinen Appetit hatte. Eine Weile blieb ich noch bei ihr, schaute mir den Fernsehfilm an und nickte zu all ihren Kommentaren. Die gute Frau redete wie ein Wasserfall, sobald sie Gesellschaft hatte, was fast nie vorkam.
    »Der war doch wirklich süß als Junge, nicht wahr?« Sie deutete auf den arglosen Joselito.
    »Ja, stimmt, Doña Paula. Jetzt muss ich aber gehen …«
    Ich küsste sie zum Abschied auf die Wange und machte mich davon. Für eine Minute lief ich in mein Zimmer hinauf und raffte eilig einige Hemden, eine Hose und frische Unterwäsche zusammen. Das alles packte ich in eine Tüte, ohne eine Sekunde länger als nötig zu verweilen. Danach ging ich beim Sekretariat vorbei und wiederholte mit unerschütterlichem Gesicht meine Geschichte von Weihnachten im Familienkreis. Beim Gehen dachte ich, wenn doch alles so einfach wäre wie Lügen.
     
     
    Schweigend aßen wir im Salon mit den Bildern zu Abend. Germán war zurückhaltend, in sich selbst versunken. Manchmal trafen sich unsere Blicke, und er lächelte mir aus reiner Höflichkeit zu. Marina rührte mit dem Löffel in einem Teller Suppe herum, führte ihn aber nie zum Mund. Die ganze Unterhaltung beschränkte sich auf das Schaben des Bestecks auf den Tellern und das Knistern der Kerzen. Unschwer konnte ich mir ausmalen, dass der Arzt nichts Gutes über Germáns Gesundheit gesagt hatte. Ich beschloss, keine Fragen zu etwas Offensichtlichem zu stellen. Nach dem Essen empfahl sich Germán und zog sich auf sein Zimmer zurück. Er wirkte gealtert und müder denn je. Das war das erste Mal, seit ich ihn kannte, dass er die Bilder seiner

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