Marina.
unnütz.
»Jetzt, da du mich so gesehen hast, werde ich dir nicht mehr gefallen.«
»Finde ich nicht sehr witzig.«
Sie reinigte sich schweigend weiter, ohne die Augen von mir abzuwenden. Ihr in der feuchten, fast durchsichtigen Baumwolle gefangener Körper wirkte zerbrechlich. Es erstaunte mich, dass ich mich überhaupt nicht verlegen fühlte, sie so zu betrachten. Auch ihr war keinerlei Scham wegen meiner Anwesenheit anzumerken. Ihre Hände zitterten, als sie sich säuberte. Ich fand einen Morgenmantel an der Tür und hielt ihn ihr geöffnet hin. Sie schlüpfte hinein und seufzte erschöpft.
»Was kann ich tun?«, murmelte ich.
»Bleib hier bei mir.«
Sie setzte sich vor einen Spiegel. Vergeblich versuchte sie, mit einer Bürste etwas Ordnung in den Wirrwarr der Haare zu bringen, die ihr auf die Schulter fielen. Sie hatte keine Kraft.
»Lass mich es tun.« Ich nahm ihr die Bürste aus der Hand.
Schweigend kämmte ich sie, während sich unsere Blicke im Spiegel trafen. Dabei ergriff Marina kräftig meine Hand und drückte sie gegen ihre Wange. Ich spürte ihre Tränen auf meiner Haut und hatte nicht den Mut, sie nach dem Grund für diese Tränen zu fragen.
Ich begleitete sie in ihr Zimmer und half ihr ins Bett. Sie zitterte nicht mehr, und in ihre Wangen war die Wärme zurückgekehrt.
»Danke«, flüsterte sie.
Ich dachte, am besten lasse ich sie ruhen, und kehrte in mein Zimmer zurück. Dort legte ich mich wieder ins Bett und versuchte vergeblich einzuschlafen. Unruhig lag ich im Dunkeln und hörte das alte Haus knacken und den Wind in den Bäumen knarren. Blinde Beklemmung nagte an mir. Allzu viele Dinge ereigneten sich allzu schnell. Mein Gehirn war außerstande, sie alle gleichzeitig zu verarbeiten. In der Dunkelheit des frühen Morgens schien alles zu verschwimmen. Doch nichts erschreckte mich mehr als meine Unfähigkeit, meine Gefühle für Marina zu verstehen oder sie mir zu erklären. Es wurde schon hell, als ich endlich einschlief.
Im Traum ging ich durch die Säle eines verlassenen, im Dunkeln liegenden weißen Marmorpalasts. Hunderte von Statuen waren aufgestellt. Wenn ich vorbeiging, öffneten die Gestalten ihre Steinaugen und flüsterten unverständliche Worte. Da glaubte ich in der Ferne Marina zu erblicken und lief auf sie zu. Eine weiße Engelsgestalt führte sie an der Hand durch einen Gang mit blutenden Wänden. Ich versuchte sie einzuholen, als eine der Türen im Gang aufging und María Shelleys Gestalt erschien, über dem Boden schwebend und ein abgetragenes Totenhemd mitschleppend. Sie weinte, aber ihre Tränen gelangten nie auf den Boden. Sie streckte mir ihre Arme entgegen, und als sie mich berührte, zerfiel ihr Körper zu Asche. Ich rief Marinas Namen, bat sie zurückzukommen, doch sie schien mich nicht zu hören. Ich lief und lief, aber der Gang wurde immer länger. Da wandte sich der Lichtengel zu mir um und offenbarte mir sein wahres Gesicht. Seine Augen waren leere Höhlen und seine Haare weiße Schlangen. Der Höllenengel lachte grausam, legte seine weißen Flügel um Marina und entfernte sich. Im Schlaf roch ich einen stinkenden Atem im Nacken. Es war der unverwechselbare Todesgestank, der meinen Namen flüsterte. Ich wandte mich um und sah, wie sich mir ein schwarzer Schmetterling auf die Schulter setzte.
17
I ch erwachte atemlos und müder als beim Zubettgehen. Meine Schläfen pochten, als hätte ich zwei Kannen schwarzen Kaffee getrunken. Ich wusste nicht, wie spät es war, aber nach dem Sonnenstand zu urteilen, musste es etwa Mittag sein. Die Zeiger des Weckers bestätigten meine Vermutung – halb eins. Eilig ging ich hinunter, doch das Haus war menschenleer. Auf dem Küchentisch erwartete mich das Frühstück, schon erkaltet, zusammen mit einer Notiz.
Óscar,
wir mussten zum Arzt und werden den ganzen Tag weg sein. Vergiss das Futter für Kafka nicht. Wir sehen uns beim Abendessen.
Marina
Ich las die Notiz noch einmal und studierte die Handschrift, während ich herzhaft dem Frühstück zusprach. Einige Minuten später machte Kafka seine Aufwartung, und ich servierte ihm seine große Tasse Milch. Ich wusste nicht, was ich mit diesem Tag anfangen sollte, und beschloss, ins Internat zu gehen, um einige Kleider zu holen und Doña Paula zu sagen, sie solle sich nicht bemühen, in meinem Zimmer sauberzumachen, ich würde die Ferien bei meiner Familie verbringen. Der Spaziergang zum Internat tat mir gut. Ich betrat es durch den Haupteingang und stieg
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