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Marina.

Marina.

Titel: Marina. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Frau Kirsten nicht zur Kenntnis nahm. Sowie er verschwunden war, schob Marina ihren noch vollen Teller von sich und seufzte.
    »Du hast keinen Bissen gegessen.«
    »Ich habe keinen Hunger.«
    »Schlechte Nachrichten?«
    »Lass uns von was anderem sprechen, ja?«, unterbrach sie mich knapp, fast feindselig.
    Die Schärfe ihrer Worte gab mir das Gefühl, ein Fremder in einem fremden Haus zu sein, als habe sie mich daran erinnern wollen, dass das nicht meine Familie, nicht mein Haus und nicht meine Probleme waren, sosehr ich mich auch bemühte, diese Illusion aufrechtzuerhalten.
    »Tut mir leid«, murmelte sie nach einer Weile und streckte mir die Hand entgegen.
    »Es hat keine Bedeutung«, log ich.
    Ich stand auf, um die Teller in die Küche zu tragen. Sie blieb schweigend sitzen und streichelte Kafka, der in ihrem Schoß miaute. Ich nahm mir mehr Zeit als nötig und spülte die Teller so lange unter dem kalten Wasser, bis ich die Hände nicht mehr spürte. Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, hatte sich Marina bereits zurückgezogen. Sie hatte zwei Kerzen für mich brennen lassen. Der Rest des Hauses lag in stiller Dunkelheit. Ich blies die Kerzen aus und ging in den Garten. Langsam zogen schwarze Wolken über den Himmel. Ein eisiger Wind schüttelte die Bäume. Ich schaute zurück und sah Licht in Marinas Fenster. Ich stellte mir vor, wie sie auf dem Bett lag. Einen Augenblick später ging das Licht aus. Das alte Haus erhob sich dunkel wie die Ruine, als die es mir am ersten Tag erschienen war. Ich überlegte, ob ich mich ebenfalls schlafen legen sollte, doch ich verspürte einen Anflug von Angst, die eine lange schlaflose Nacht verhieß. Also beschloss ich, spazieren zu gehen, um meine Gedanken zu ordnen oder doch wenigstens den Körper müde zu machen. Kaum hatte ich zwei Schritte getan, begann es zu tröpfeln. Es war eine unfreundliche Nacht, und die Straßen waren menschenleer. Ich steckte die Hände tief in die Taschen und begann loszumarschieren. Fast zwei Stunden lang irrte ich durch die Gegend. Weder die Kälte noch der Regen hatten die Gnade, mir die ersehnte Schläfrigkeit zuzugestehen. Irgendetwas ging mir im Kopf herum, und je mehr ich es zu ignorieren versuchte, desto stärker drängte sich seine Anwesenheit auf.
    Meine Schritte führten mich zum Friedhof von Sarriá. Der Regen spuckte auf schwarz gewordene Steingesichter und schiefe Kreuze. Hinter dem Gittertor konnte ich eine Galerie geisterhafter Silhouetten ausmachen. Die feuchte Erde stank nach verwelkten Blumen. Ich lehnte den Kopf an die Gitterstäbe. Das Metall war kalt. Eine Rostspur zog sich über meine Haut. Ich spähte in die Dunkelheit hinein, als könnte ich dort die Erklärung für all diese Vorgänge finden. Ich vermochte nichts Weiteres als Tod und Stille zu sehen. Was hatte ich hier verloren? Wenn ich noch einen Funken gesunden Menschenverstand besaß, musste ich schleunigst den Heimweg antreten und hundert Stunden durchschlafen. Das war wahrscheinlich meine beste Idee seit drei Monaten.
    Ich machte kehrt, um durch den schmalen Zypressenkorridor zurückzugehen. In der Ferne glänzte eine Straßenlaterne. Plötzlich verschwand der Lichthof. Eine dunkle Erscheinung breitete sich über allem aus. Ich hörte Pferdehufe auf dem Straßenpflaster und sah ein schwarzes Fuhrwerk durch den Wasservorhang heranpreschen. Die Nüstern der tiefschwarzen Pferde stießen gespenstischen Dunst aus. Auf dem Bock zeichnete sich die anachronistische Gestalt eines Kutschers ab. Ich wollte mich seitlich des Weges verbergen, fand aber nur nackte Mauern. Unter meinen Füßen erzitterte der Boden. Ich hatte nur eine Möglichkeit: umzudrehen. Pudelnass und beinahe atemlos erklomm ich das Gittertor und sprang in den Friedhof hinein.

18
    I ch landete mitten im Morast, der im Wolkenbruch zerfloss. Schmutzwasserbäche führten verwelkte Blumen mit sich und verzweigten sich zwischen den Grabsteinen. Ich versank mit Füßen und Händen im Schlamm. Dann rappelte ich mich auf und versteckte mich eiligst hinter einem Marmortorso mit zum Himmel emporgereckten Armen. Das Fuhrwerk hatte jenseits des Gittertors angehalten, der Kutscher stieg ab. Er trug eine Laterne; das Cape bedeckte seinen ganzen Körper. Ein breitkrempiger Hut und ein Schal schützten ihn vor Regen und Kälte und verdeckten sein Gesicht. Ich erkannte das Fuhrwerk wieder – es war dasselbe, das an jenem Vormittag am Francia-Bahnhof die Dame in Schwarz mitgenommen hatte. Auf einem der Türchen erspähte ich

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