Marina.
sich im Wind. Das alles roch nach Elend, Kloake und Krankheit. Die Wände schwitzten das Wasser geplatzter Rohrleitungen aus. Der Boden war verpfützt. Ich erkannte eine Reihe verrosteter Briefkästen, trat näher und betrachtete sie. Die meisten waren leer, beschädigt und namenlos. Nur ein einziger schien in Gebrauch zu sein. Ich entzifferte den Namen unter dem Schmutz:
Luis Claret i Milá, 3º
Der Name war mir vertraut, obwohl ich zunächst nicht wusste, woher. Ich fragte mich, ob der Kutscher so heiße. Ein ums andere Mal wiederholte ich den Namen und versuchte mich zu entsinnen, wo ich ihn gehört hatte. Auf einmal klarte meine Erinnerung auf. Inspektor Florián hatte uns gesagt, in Kolweniks letzten Jahren hätten in der Villa am Park Güell nur zwei Personen zu ihm und zu seiner Frau Ewa Zugang gehabt: Shelley, sein persönlicher Arzt, und ein Fahrer, der seinen Chef um keinen Preis verlassen mochte, Luis Claret. Ich nestelte in meiner Hosentasche nach der Telefonnummer, die uns Inspektor Florián für den Notfall gegeben hatte. Schon glaubte ich sie gefunden zu haben, als ich oben im Treppenhaus Schritte hörte. Ich flüchtete.
Wieder auf der Straße, lief ich zur nächsten Ecke, um mich dahinter zu verstecken. Kurz darauf trat eine Gestalt aus der Tür und ging im Nieselregen davon. Wieder der Kutscher. Ich wartete, bis er verschwunden war, und folgte dann dem Echo seiner Schritte.
19
A uf Clarets Spur wurde ich zum Schatten unter Schatten. Die Armut und das Elend dieses Viertels waren in der Luft zu riechen. Mit weit ausholenden Schritten marschierte Claret durch Straßen, in denen ich noch nie gewesen war. Erst als er um eine Ecke bog und ich die Calle Conde del Asalto erkannte, fand ich mich wieder zurecht. Als wir die Ramblas erreichten, bog er links ein Richtung Plaza de Cataluña.
Auf dem Boulevard bummelten ein paar Nachtvögel. Die erleuchteten Kioske sahen aus wie gestrandete Schiffe. Beim Liceo wechselte Claret auf die andere Straßenseite und blieb dann vor dem Haus stehen, in dem Dr. Shelley und seine Tochter María wohnten. Bevor er eintrat, sah ich ihn einen blitzenden Gegenstand unter dem Cape hervorziehen – den Revolver.
Die Hausfassade war eine Maske aus Reliefs und Wasserspeiern, die ganze Bäche von Schmutzwasser ausspuckten. An der Ecke drang aus einem Fenster eine Handbreit goldenen Lichts. Shelleys Arbeitszimmer. Ich stellte mir den alten Doktor in seinem Invalidensessel vor, unfähig, Schlaf zu finden. Ich lief zum Portal. Claret hatte es von innen verriegelt. Ich suchte eine andere Möglichkeit hineinzugelangen und ging um das Haus herum. Auf der Rückseite führte eine schmale Feuerleiter zu einem Gesims hinauf, das wie ein steinerner Laufsteg ums ganze Haus herumlief bis zu den Balkonen der Hauptfassade. Von dort bis zu Shelleys Studio waren es nur noch wenige Meter. Über die Leiter stieg ich zum Gesims empor. Dort stellte ich fest, dass es höchstens zwei Spannen breit war. Die Straße unter meinen Füßen lag da wie ein Abgrund. Ich atmete tief ein und tat einen ersten Schritt auf den schmalen Vorsprung.
Dicht an der Hausmauer rückte ich Zentimeter um Zentimeter vor. Die Oberfläche war glitschig. Ab und zu bewegte sich unter meinen Füßen ein Stein. Ich hatte das Gefühl, mit jedem Schritt werde der Sims schmaler. Die Wand in meinem Rücken schien sich vornüber zu neigen. Sie war mit in den Stein gehauenen Faunen übersät. Ich streckte die Finger in die dämonische Grimasse einer dieser Figuren und fürchtete, der Schlund klappe zu und kappe sie mir. Sie wie Griffe benutzend, erreichte ich schließlich das Schmiedeeisengeländer um den Balkon von Shelleys Arbeitszimmer.
Dann stand ich auf der Gitterplattform vor den hohen Fenstern. Die Scheiben waren beschlagen. Ich presste das Gesicht daran und konnte schwach hineinsehen. Das Fenster war nicht von innen abgeschlossen, so dass ich es ein wenig aufdrücken konnte. Ein Schwall warme, nach dem verbrannten Holz im Kamin riechende Luft schlug mir ins Gesicht. Vor dem Feuer saß der Arzt in seinem Sessel, als hätte er sich nie von da weggerührt. Hinter ihm gingen die Türflügel des Arbeitszimmers auf. Claret. Ich war zu spät gekommen.
»Du hast deinen Schwur gebrochen«, hörte ich Claret sagen.
Zum ersten Mal vernahm ich seine Stimme deutlich. Schwer, heiser. So wie die eines Internatsgärtners, Daniel, dem im Krieg eine Kugel den Kehlkopf durchbohrt hatte. Zwar hatten die Ärzte seinen Hals rekonstruiert,
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