Marionetten
eher, als bis Issa das Gesicht zur Wand gedreht hatte und in einen Halbschlaf verfallen war, in dem er russisches Zeug vor sich hin murmelte) knotete er den Riemen auf und zog die Falten des Beutels auseinander.
Sein erster Fund war ein Bündel verblichener russischer Zeitungsausschnitte, zusammengerollt und mit einem Gummiband umwickelt. Er streifte das Gummi ab und breitete sie auf dem Fußboden aus. Auf allen war ein Offizier in einer Uniform der Roten Armee zu sehen, ein brutal wirkender Mittsechziger mit breiter Stirn und wuchtigen Kinnbacken. Zwei der Ausschnitte waren Todesanzeigen, verziert mit orthodoxen Kreuzen und Regimentsinsignien.
Sein zweiter Fund war ein Packen brandneuer Fünfzigdollarscheine, zehn an der Zahl, in einer Geldklammer. Bei dem Anblick stürmten all seine alten Befürchtungen wieder auf ihn ein. Ein halbverhungerter, bettelarmer, obdachloser, zerschundener Flüchtling mit fünfhundert druckfrischen US-Dollar in seinem Beutel? Hatte er sie gestohlen? Gefälscht? Hatte er deshalb im Gefängnis gesessen? War das der Rest der Summe, die er den Schleppern aus Istanbul bezahlt hatte, dem hilfsbereiten Seemann, der ihn versteckt, und dem Fernfahrer, der ihn von Kopenhagen nach Hamburg verfrachtet hatte? Wenn jetzt noch fünfhundert übrig waren, mit wieviel mochte er dann aufgebrochen sein? Womöglich waren seine Arztphantasien ja doch nicht so verfehlt.
Sein dritter Fund war ein abgegriffenes weißes Kuvert, zusammengeknüllt, als hätte jemand es wegwerfen wollen und sich dann eines Besseren besonnen: unfrankiert, unadressiert, die Umschlagklappe aufgerissen. Er strich es glatt und zog einen zerknitterten Brief heraus, eine einzelne maschinengeschriebene Seite in kyrillischer Schrift. Adresse, Datum und der Name des Absenders – oder was er dafür hielt – bildeten in großen schwarzen Druckbuchstaben den Briefkopf. Der unentzifferbare Text war von Hand unterschrieben, ein unleserlicher Krakel in blauer Tinte, gefolgt von einer sechsstelligen Zahl, auch sie handgeschrieben, aber mit größter Sorgfalt, jede Ziffer mehrmals mit Tinte nachgezogen, wie um zu sagen: Präg sie dir ein.
Sein letzter Fund war ein kleiner Hohlschlüssel, nicht größer als ein Knöchel an Meliks Boxerhand. Er war maschinengefertigt und mit komplizierten gezahnten Barten nach drei Seiten versehen: zu klein für eine Gefängnistür, schätzte Melik; zu klein auch für das Tor, das in Göteborg zurück aufs Schiff geführt hatte. Aber genau richtig für Handschellen.
Er packte Issas Habseligkeiten wieder in ihren Beutel und schob ihn ihm unter das schweißdurchtränkte Kopfkissen: mochte er ihn beim Aufwachen finden! Aber am nächsten Morgen waren die Schuldgefühle, die sich seiner bemächtigt hatten, doch zu groß. Seine ganze nächtliche Wache hindurch, vor seinem eigenen Bett am Boden ausgestreckt, hatten ihn nicht nur Bilder von Issas gemarterten Gliedmaßen gequält, sondern auch das Bewußtsein seiner eigenen Unbedarftheit.
Als Kämpfer kannte er sich aus mit Schmerzen, jedenfalls hatte er das immer gedacht. Allein schon die Straßenprügeleien, in die er als Halbwüchsiger verwickelt gewesen war! Bei einem Meisterschaftskampf vor nicht langer Zeit hatte ihn ein Hagel von Schlägen in das gefürchtete rote Dunkel torkeln lassen, aus dem nicht jeder Boxer den Weg zurückfindet. Beim Schwimmen gegen seine deutschen Konkurrenten war er an die äußersten Grenzen seines Ausdauervermögens gestoßen – oder was er bisher dafür gehalten hatte.
Doch verglichen mit Issa war er unerprobt.
Issa ist ein Mann, und ich bin noch ein Junge. Ich habe mir immer einen Bruder gewünscht, und jetzt wird mir einer frei Haus geliefert, und ich habe ihn zurückgewiesen. Er hat gelitten wie ein wahrer Glaubensheld, während ich mich im billigen Glanz des Boxrings gesonnt habe.
* * *
Kurz nach Tagesanbruch gingen die flattrigen Atemzüge, die Melik die ganze Nacht in Sorge gehalten hatten, in ein stetiges Rasseln über. Als er die Kompresse wechselte, stellte er voll Erleichterung fest, daß Issas Stirn nicht mehr glühte. Am Vormittag lagerte er schon wie ein Pascha auf einem goldsamtenen Berg aus Leylas quastengeschmückten Wohnzimmerkissen, Leyla fütterte ihn mit einem kräftigenden Brei, dessen Rezeptur nur sie allein kannte, und das Kettchen von seiner Mutter hing um sein Handgelenk, wo es hingehörte.
Melik, von Scham zerfressen, wartete ab, bis die Tür sich hinter Leyla geschlossen hatte. Dann kniete er mit
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