Marionetten
gesenktem Kopf an Issas Seite nieder.
»Ich habe in deinen Beutel gesehen«, sagte er. »Ich schäme mich zutiefst, daß ich das getan habe. Möge Allah in seiner Barmherzigkeit mir vergeben.«
Issa versank einmal wieder in ein nicht enden wollendes Schweigen, dann legte er Melik die abgezehrte Hand auf die Schulter.
»Niemals gestehen, mein Freund«, riet er ihm schläfrig, indem er seine Hand nahm und sie drückte. »Wenn du gestehst, sie lassen dich nie wieder raus.«
2
Am Freitag darauf, achtzehn Uhr, begab sich das private Bankhaus Brue Frères AG (vormals Glasgow, Rio de Janeiro und Wien, derzeit Hamburg) fürs Wochenende zur Ruhe.
Schlag halb sechs hatte ein muskulöser Hausmeister die Eingangstür des schmucken Stadthauses an der Binnenalster geschlossen. Minuten später hatte die Hauptkassiererin den Tresorraum abgesperrt und die Alarmanlage eingeschaltet, die Bürovorsteherin hatte das letzte ihrer Mädels nach Hause geschickt und noch einmal sämtliche Computer und Papierkörbe überprüft, und die dienstälteste Angestellte der Bank, Frau Ellenberger, hatte die Telefone umgestellt, sich ihre Baskenmütze auf den Kopf gesetzt, ihr Fahrrad von seiner Eisenstange im Hof losgekettet und war von dannen geradelt, um ihre Großnichte vom Tanzkurs abzuholen.
Allerdings nicht, ohne zuvor ihren Arbeitgeber, Mr. Tommy Brue, den einzigen noch lebenden Partner der Bank und Träger ihres ruhmreichen Namens, mit gespielter Strenge zurechtgewiesen zu haben: »Ich muß schon sagen, Mr. Tommy, Sie sind noch schlimmer als wir Deutschen«, erklärte sie in ihrem lupenreinen Englisch, indem sie den Kopf durch den Türspalt seines Büros steckte. »Warum tun Sie sich diese Plackerei an? Der Frühling ist eingezogen! Sehen Sie nicht die Krokusse und die Magnolien blühen? Sie sind jetzt sechzig, vergessen Sie das nicht. Sie sollten heimfahren und mit Mrs. Brue in Ihrem schönen Garten ein Glas Wein trinken! Ansonsten sind Ihre Nerven über kurz oder lang zwirnsfadenscheinig«, warnte sie, mehr um ihre Liebe zu Beatrix Potter zur Schau zu stellen als in der Erwartung, ihren Arbeitgeber von seinen Unarten zu kurieren.
Brue hob die rechte Hand zu einem huldvollen päpstlichen Segen.
»Ziehen Sie in Frieden, Frau Elli«, sagte er in gespielter Resignation. »Wenn meine Angestellten nicht bereit sind, während der Woche für mich zu arbeiten, muß ich wohl oder übel am Wochenende für sie arbeiten. Adieu« – und er warf ihr eine Kußhand zu.
»Auch Ihnen adieu, Mr. Tommy, und grüßen Sie Ihre liebe Frau.«
»Werd ich machen.«
Die Wirklichkeit, das wußten sie beide, sah anders aus. Stille in den Korridoren, kein Telefonklingeln, keine Kunden, die etwas von ihm wollten, seine Frau Mitzi beim Bridgeabend mit ihren Freunden, den von Essens – Brue hatte sein Reich für sich. Er konnte die zu Ende gehende Woche Revue passieren lassen, er konnte die neue einläuten. Er konnte, wenn ihm danach war, mit seiner unsterblichen Seele zu Rate gehen.
* * *
Der unfrühlingshaften Hitze entsprechend war Brue in Hemdsärmeln und Hosenträgern. Das Jackett seines maßgeschneiderten Anzugs hing säuberlich auf einem stummen Diener bei der Tür: Randall’s of Glasgow, Schneider der Brues in vierter Generation. Der Schreibtisch, an dem Brue saß, war derselbe, den Duncan Brue, Gründer der Bank, mit an Bord genommen hatte, als er 1908 mit nichts als Hoffnung im Herzen und fünfzig Goldsouvereigns in der Tasche von Schottland aus in See gestochen war.
Auch der wuchtige Mahagonibücherschrank, der eine ganze Wand einnahm, war ein altes Familienstück. Hinter seinen verzierten Glastüren standen in langen Reihen die ledergebundenen Meister der Weltliteratur: Dante, Goethe, Plato, Sokrates, Tolstoi, Dickens, Shakespeare und, etwas überraschend, Jack London. Brues Großvater hatte das Trumm mitsamt Inhalt für einen geplatzten Wechsel in Zahlung genommen. Hatte er sich verpflichtet gefühlt, die Bücher zu lesen? Der Überlieferung nach nicht. Er hatte sie zum Inventar seiner Bank gemacht.
Und an der Wand direkt vor Brues Nase hing wie ein goldgerahmtes Warnschild der originale, handgemalte Stammbaum der Familie. Die Wurzeln der uralten Eiche gruben sich tief in die Ufer des silberglänzenden Tay. Ihre Äste reichten nach Osten ins alte Europa und nach Westen hin bis in die Neue Welt. Goldene Eicheln markierten die Städte, wo auswärtige Heiraten das Brue’sche Blut aufgefrischt hatten – und die verfügbaren Reserven der Bank
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