Marissa Blumenthal 01 - Virus
hinunterzukommen.
Als sie erneut den Raum betrat, in dem sie heute morgen mit ihrer Arbeit begonnen hatte, wurde ihr bewußt, wie lange sie nun schon beschäftigt war. Sie fühlte sich müde bis in die Knochen, als Dr. Navarre die Tür hinter ihr schloß und ihr die dritte Person im Raum vorstellte. Es war William Richter, der Bruder des Augenarztes.
»Ich wollte Ihnen doch persönlich dafür danken, daß Sie gekommen sind«, sagte er. Er war ein elegant gekleideter Herr im Nadelstreifenanzug, dessen abgespanntes Gesicht jedoch ein stummes Zeugnis von seinem Mangel an Schlaf ablegte. »Dr. Navarre hat mir von Ihrer Diagnosevermutung berichtet. Ich darf Ihnen versichern, daß wir Sie bis an die Grenzen unserer Möglichkeiten bei Ihren Bemühungen unterstützen werden, diese Krankheit unter Kontrolle zu bringen. Aber wir machen uns natürlich auch Gedanken über die negativen Auswirkungen, die diese Situation auf unsere Klinik haben kann. Ich hoffe, daß Sie meiner Meinung zustimmen, daß es am besten ist, wenn nichts an die Öffentlichkeit dringt.«
Marissa war zwar eher etwas entrüstet angesichts der Tatsache, daß hier viele Menschenleben auf dem Spiel standen, aber schließlich hatte Dr. Dubchek im Grunde genommen das gleiche gesagt.
»Ich kann Ihre Besorgnis verstehen«, sagte sie und fühlte sich recht unwohl bei dem Gedanken, daß sie ja schon mit einem Reporter gesprochen hatte. »Aber ich meine, wir müßten jetzt vor allem einmal weitergehende Quarantänemaßnahmen ergreifen.« Marissa fuhr fort mit der Erläuterung, daß man zunächst die vermutlichen Kontaktpersonen in zwei Gruppen erfassen müsse - Primär- und Sekundärkontakte. Zur ersten Gruppe müßten jene Personen gerechnet werden, die mit den jetzigen acht Patienten gesprochen hätten oder in körperliche Berührung mit ihnen gekommen seien. In die zweite Gruppe seien alle jene einzustufen, die wiederum mit den Leuten aus der ersten Gruppe Kontakt gehabt hätten.
»Mein Gott«, rief Dr. Navarre aus, »da geht es ja um Tausende von Leuten!«
»Das ist leider so«, sagte Marissa. »Wir brauchen im Augenblick das gesamte Personal, das die Klinik abstellen kann. Außerdem müssen wir uns der Unterstützung des staatlichen Gesundheitsdienstes versichern.«
»Wir werden für die entsprechenden Kräfte sorgen«, sagte William Richter. »Ich möchte das lieber hausintern regeln. Aber sollten wir nicht abwarten, bis wir tatsächlich eine verbindliche Diagnose haben?«
»Wenn wir das abwarten wollen, kann es leicht zu spät sein«, gab Marissa zurück. »Wir können die Quarantäne ja aufheben, wenn sie sich nicht als notwendig erweist.«
»Ich sehe keine Chance, das vor der Presse geheimzuhalten«, seufzte William Richter.
»Um ehrlich zu sein«, sagte Marissa, »meine ich sogar, daß die Presse uns wichtige Hilfe leisten kann, wenn es darum geht, alle diese Kontaktpersonen zu erreichen. Die Primärkontaktpersonen müssen angewiesen werden, sich während einer Woche so isoliert wie möglich zu halten und zweimal täglich ihre Temperatur zu messen. Wenn diese wesentlich über 38 Grad steigt, müssen sie in die Klinik kommen. Sekundärkontaktpersonen können weiterhin ihrer Arbeit nachgehen, sollten aber täglich ihre Temperatur prüfen.«
Marissa stand auf und reckte sich. »Sobald Dr. Dubchek kommt, wird er einige Vorschläge machen. Aber das, was ich soeben umrissen habe, entspricht den üblichen Verhaltensmaßregeln des Seuchenkontrollzentrums. Ich muß deren Durchführung der Richter-Klinik übertragen. Meine eigene Aufgabe ist es, der Herkunft des Virus auf die Spur zu kommen.«
Zwei verblüffte Männer zurücklassend, verließ Marissa das Konferenzzimmer. Sie ging vom eigentlichen Krankenhausbau in das Klinikgebäude hinüber, begab sich dort an den Informationsschalter und fragte nach dem Büro von Dr. Richter. Es befand sich im zweiten Stock, und Marissa fuhr gleich hinauf.
Die Tür war geschlossen, aber nicht abgesperrt. Marissa klopfte und trat ein. Dr. Richters Empfangsdame saß pflichtbewußt hinter ihrem Schreibtisch. Offensichtlich hatte sie nicht mit Besuch gerechnet, denn sie drückte rasch eine Zigarette aus und schob den Aschenbecher in eine der Schreibtischschubladen.
»Was kann ich für Sie tun?« fragte sie. Sie mochte in den Fünfzigern sein und hatte strenge silbergraue Dauerwellen. Ihr Namensschild wies sie als Miß Cavanagh aus. Weit vorne auf der Spitze ihrer Nase saß eine Lesebrille, deren Bügelenden mit einem
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