Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 14 Frisches Blut für X
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Die blauen Blumen wuchsen dicht.
Veit hätte ihren Namen kennen müssen, aber er fiel ihm nicht ein. Seit Stunden hatte er den Eindruck, alle Blumen an diesem Berg hießen Veronika. Vor allem die blauen.
Der junge Mann ging schneller, folgte den immer üppigeren Beeten und merkte nicht, wie der Hang beständig steiler wurde. Das heftige Pochen seines Herzens, den fiebrigen Schweiß auf seiner Stirn schrieb er der Erregung zu, die die Frau in seine Brust gepflanzt hatte wie den Keim einer fiebrigen indischen Krankheit. Ihr Lächeln, ihr Blinzeln, ihr neckisches Knicksen vor der Kirche – es waren letale Angriffe auf seine Seele gewesen, Attacken, von denen er sich sein Leben lang nicht mehr erholen würde.
Und nicht erholen wollte.
Wenn es früher tatsächlich Hexen gegeben hatte, die die Gabe des Bösen Blicks besaßen, dann verfügte Veronika über den Guten Blick. Ebenso vernichtend und ebenso unwiderstehlich …
Das Blau der Blumen war so kühl, und doch versengte es ihn innerlich. Es war wie das Blau ihrer Augen. Diese Augen legten ihre Unschuld und Reinheit nicht einmal in dem Moment ab, in dem sie ihn aus der versammelten Gemeinde heraus damit anblitzte und ihm damit alles versprach – alles, was eine Frau auf dieser Welt geben konnte, alles, was ein Mann in dieser Welt nehmen wollte, und obendrauf noch eine Zugabe, etwas, von dem sie beide erst wissen würden, dass es existierte, wenn sie es am eigenen Leib erfahren hatten.
Veit sah die sich entfaltenden Blüten und wünschte sich, dass Veronika hier wäre und sie als Kleid trüge. Nur die Blüten, nichts sonst. Er wollte sie damit überschütten und sie wieder ausgraben, Muster damit auf ihre Haut streuen, komplizierte zuerst, dann immer einfachere, bis seine Kunst und seine Liebe und seine Lust auf ihrem Körper eins werden würden.
Immer wieder blieb er unvermittelt stehen und blickte zurück. Das Dorf, diese malerische Ansammlung von zwei Dutzend Häusern mit der schmalen, hoch aufragenden Kirche an der Seite, entfernte sich immer weiter von ihm. Er konnte unmöglich schon so weit gegangen sein! Es musste das Dorf sein, das ins Tal sank. Es rutschte immer weiter hinab, während er von hier oben zusah und darauf wartete, dass die einzige Seele, die ihm wichtig war, aus der untergehenden Arche floh, um sich mit ihm der Sintflut, der Sinnen flut zu ergeben.
Sie floh nicht. Was konnte er tun?
Wenn sie nicht in die Natur kam, wo sie und er hingehörten, musste er eben die Natur zu ihr bringen. Die Blumen pflücken und sie wie einen blauen Sturm zu ihr hinabtragen, die Frau in ihrer Kammer, in ihrem Bett darin ertränken.
Vielleicht wollte sie, dass es die ganze Gemeinde sah. Vielleicht wollte sie, dass am nächsten Sonntag der Pfarrer von der Kanzel herab darüber predigte. Wollte sehen, wie seine dünnen Arme hilflos in die Luft griffen, in dem Versuch, die Vergehen der beiden jungen Leute so plastisch wie möglich darzustellen, ohne selbst die Schwelle der Obszönität zu überschreiten. Dann würden sie mit gesenkten Köpfen und glühenden Wangen in der ersten Reihe sitzen, ein verborgenes Lächeln auf ihren Lippen, und ihr Glück noch einmal auf neue Weise nacherleben.
Das Dorf, das bis dahin bedrohlich weit hinabgesunken war, würde angesichts ihrer Beichte wieder ein Stück am Hang empor gleiten, zu den blauen Blumen hin. Und alles würde wieder von vorn beginnen. Das Auf und Ab der menschlichen Seele in Geständnis und Sünde, Geständnis und Sünde.
Veit stolperte, mehr absichtlich als aus Versehen, und legte sich ins Gras. Mit einem entrückten Lächeln auf den Lippen strich er über die Blumen, die jetzt überall um ihn herum waren. Eine riss er aus und küsste sie. Dann steckte er sie unter sein Hemd.
Er kniff die Augen zusammen und spähte den Hang hinab. War er noch zu sehen, falls der Pfarrer aus dem obersten Fenster des Kirchturms nach ihm Ausschau hielt? Lachend stopfte er sich die blaue Blume in die Lederhose. Ziegenleder. Die Blüte war so klein und leicht, dass er sie nicht spürte, aber seine Vorstellungskraft machte ihn wahnsinnig.
Die Blumen hießen nämlich „Veronikas Augen“. Er war fast sicher, dass dieser Begriff, auf Lateinisch übersetzt, sich in den Botanikbüchern der Bibliothek finden würde, wenn er sich nur die Mühe machte nachzusehen.
Auf einmal war alles denkbar, alles möglich. Die ganze Welt war nur eines dieser Technikspielzeuge, die man immer neu zusammensetzen konnte, wie man sie brauchte. Wenn man
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