Mark Tate - 011 - Ein Mager läßt die Puppen tanzen
Schottischer!« murmelte Ray beschwörend und schenkte das Glas randvoll.
Prompt wollte Cummings danach greifen, aber Ray verhinderte es.
»Was ist nun? Schau dich um, Cummings. Alle warten. Willst du uns nicht die Freude machen? Alle warten begierig auf deine Geschichte.«
Der Alte leckte sich verlangend über die Lippen und stierte wie ein von einer Schlange hypnotisiertes Kaninchen auf das volle Glas. Aber er sagte nichts. Noch war die Angst stärker als die Sucht.
Ray knallte die Flasche auf den Tisch und zog seine Hände zurück.
Blitzschnell leerte Cummings das Glas. Und während er sich erneut einschenkte, begann er zu erzählen.
»Es ist lange her, und ein großer Teil der Erinnerungen an das Vergangene ging verloren. Es gibt auch keine Aufzeichnungen darüber.« Der Alte leerte das dritte Glas innerhalb kurzer Zeit. Seine Stimme bebte.
»Der Lord, der diese Gegend beherrschte, fiel bei der Königin in Ungnade. Er war ein Tyrann und die Königin eine gute Frau. Er mußte Abbuße tun und zog sich in das damalige Bredhouse zurück, wo er ein Jagdhaus besaß. Lange schon gibt es dort nichts mehr zu jagen, und das Haus ist teilweise verfallen. Aber es steht noch. Es fand sogar vor vielen Jahren einen Käufer. Jemand zog ein. Kaum einer hat ihn je zu Gesicht bekommen. Was er zum Leben braucht, läßt er sich bringen. Er hat viel Geld und zahlt gut. Aber er ist ein Einsiedler. Die Lage des einstmals herrschaftlichen Hauses und jetzigen düsteren Gemäuers erlaubt es ihm. Es steht weit außerhalb des Dorfes, eingebettet zwischen Felsen, so daß man es nicht einmal von einem Hubschrauber aus sehen kann, wenn man nicht die Augen eines Adlers und den Spürsinn eines Wolfes besitzt.«
Jemand maulte: »Was soll die Geschichte? Wir wollen etwas vom Bloody River hören!«
Zustimmendes Gemurmel. Raymond Walsh und seine Freunde hielten sich da raus. Ray hatte sich wieder auf seinen Platz gesetzt und ließ Cummings nicht aus den Augen. Die beiden Mädchen drängten sich bebend gegen ihre Freunde. Lichtreflexe in Guys Brille machten seine Augen unsichtbar, aber sein Gesichtsausdruck, teilweise verborgen durch den wild wuchernden Bart, sprach Bände.
Der Alte genehmigte sich ein viertes Gläschen, bevor er fortfuhr.
»Niemand weiß genau, was sich damals ereignete. Aber man munkelt, daß der böse Lord auch in Bredhouse seinem teuflischen Trieb gehorchte. Die Bewohner des Dorfes wurden von ihm verschont. Er brauchte sie, damit sie ihm einen guten Leumund verschafften, wenn die Getreuen der Königin kamen, um ihn zu überprüfen. Was er getan hat, ist trotzdem an die Öffentlichkeit gesickert. Seitdem ist sein Name ausgelöscht in den Annalen der britischen Adelsgeschichte. Niemand mehr will mit ihm etwas zu tun haben. Niemand will verwandt mit ihm sein. Niemand will von ihm abstammen.«
Abermals schüttete er sich von dem scharfen Zeug ins Glas. Dabei verschüttete er ein paar Tropfen. Wieselflink huschte seine Zunge über die Tischplatte, um das kostbare Naß aufzuwischen.
Die Freunde mußten sich einen Moment lang angewidert abwenden.
Cummings trank zum fünften Mal.
Als er danach weitersprach, hatte seine Stimme gewaltig an Festigkeit verloren. Er lallte mehr als daß er sprach.
Mehrmals wischte er sich über den Mund.
»Der Lord hielt wüste Feste und wildeste Orgien ab. Seine Gäste – die geladenen wie die ungeladenen und mit Gewalt herbeizitierten – kamen alle von außerhalb. Er hatte seine Helfer, die seine Verbindung mit der Welt waren. Er selbst hatte sich in dem Jagdhaus vergraben.
Und in manchen Nächten, während er seine Feste abhielt, färbte sich das kleine Flüßchen, das quer durch Bredhouse verläuft, blutigrot. Es ist Wasser, das direkt aus dem Felsen geboren ist. Es sprudelt mächtig schäumend hervor und fraß sich im Laufe der Jahrtausende einen Weg durch das Tal. Aber es verläßt das Tal nicht auf normalem Wege. Der Fluß endet wie abgetrennt. Das Wasser verschwindet scheinbar im Nichts – und mit ihm das Blut jener schrecklichen Nächte, in denen furchtbare Schreie bis zu den Häusern der Dorfbewohner drangen. Die Menschen von Bredhouse wollten es nicht wahrhaben. Sie stopften ihre Ohren zu, um nicht Zeugen zu werden. Und in ihren Herzen nistete sich das Grauen ein. Sie hatten Angst, daß sich der Lord anders besinnen würde, daß die nächsten Gäste für seine Orgien – vor allem die unfreiwilligen – Mitglieder der dörflichen Gemeinschaft sein könnten.
Wie dem auch sei:
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