Mark Tate - 012 - Nachts gruselt's sich leichter
Augenblick auf.
*
Wild schluchzte das Mädchen auf. »Nein, so bleib doch!« Aber es war still um sie herum. Nichts mehr war zu sehen. Nur das gespenstische Leuchten blieb und zeigte Marietta den Weg.
Sie überwand ihre Enttäuschung und ging weiter. Es konnte nicht mehr weit sein bis zu ihrem Ziel.
Jetzt wurde sie sich wieder der unnatürlichen Kälte bewußt, die hier unten herrschte, und sie zog die Decke enger um die Schultern. Die Schultasche preßte sie an sich.
Neben den Büchern und Heften, die sie sonst zum Unterricht brauchte – sie hatte sie mitgenommen, um zu Hause keinen Verdacht zu erregen –, führte sie vierzig Schlaftabletten und etwa dreihundert Baldriantabletten mit.
Sie würden ihr helfen, die Tür zum Jenseits aufzustoßen, um endgültig mit den Kräften vereinigt zu sein, denen sie sich verschworen hatte.
Aber nicht nur Tabletten hatte sie dabei. Auch noch andere Gegenstände hatte sie in die Tasche gesteckt.
Sie hatte sich während der Ferien die Mühe gemacht, eine Bibliothek aufzusuchen. Von magischen Dingen hatte sie bislang nur sehr wenig gewußt. Es gab jedoch einschlägige Literatur, und durch sie hatte sie eine Menge erfahren.
Ihre Eltern hatten nichts von alledem geahnt. Sie lebten in ihrer eigenen Welt, in der die Sorgen ihrer Tochter, ihre Ängste und Nöte, keinen Platz hatten.
Marietta glaubte, das Richtige zu tun.
Sie bog um eine Gangecke, und dann war sie am Zielpunkt angelangt. Sie hatte ihn auf Umwegen erreicht. Es gab einen wesentlich kürzeren Weg vom Keller bis hierher, aber sie hatte ihn vermieden; in der Hoffnung, auf den zu stoßen, dem sie sich verschrieben hatte – Kasimir Cassdorf.
Hier unten wurden die notorischen Feste gefeiert – am Ufer des unterirdischen Gewässers – vor nahezu zwei Jahrhunderten.
Das Wasser rauschte aus dem Felsen heraus, plätscherte zu Boden und bahnte sich einen Weg quer durch die Höhle. Im Laufe der Zeit hatte es sich ein Bett gegraben.
Der Bach war spiegelglatt. Leben gab es nicht darin.
Vorsichtig streckte Marietta ihre Hand hinein. Das Wasser war eisig. Es mochte von fernen Gletschern stammen und auf irgendeine Weise den Weg hierher finden.
Marietta interessierte diese Frage aber nicht.
Für sie hatte das Wasser nur magische Bedeutung.
Sie schaute sich in der Höhle um. Auch hier war jenes gespenstische Leuchten, das darauf hinwies, daß sie Kräfte geweckt hatte; die die ganze Zeit hier unten geschlummert hatten.
Cassdorfs Widersacher hatten gehofft, vollends den Sieg errungen zu haben. Sie sollten sich gewaltig getäuscht haben.
Kasimir Cassdorf hatte sich all der verdammten Seelen bedient – der Seelen der Unglücklichen, die hier unten einen schrecklichen Tod gefunden hätten.
Sie waren am Ende des Kampfes befreit worden, doch gab es noch immer Kräfte, vom Wirken des schrecklichen Fürsten entfacht. Jetzt waren sie erneut geweckt.
Und Marietta Bickford war das Medium.
Das Mädchen zog die Decke von den Schultern und breitete sie auf dem Boden aus.
Dann öffnete sie ihre Schultasche und entnahm ihr zunächst einmal nur ein Stück Kreide. Damit zeichnete sie einen Halbkreis und versah diesen mit negativen Zeichen.
Oh, sie hatte wirklich in der kurzen Zeit, die ihr in den Ferien zur Verfügung gestanden hatte, eine Menge gelernt. Und jetzt zahlte sich das aus.
Marietta war stolz auf ihr Wissen.
Sie schloß den Kreis um die Decke.
Schließlich, nachdem sie ihre Arbeit begutachtet hatte und zufrieden damit war, hockte sie sich nieder, im Schneidersitz. Die Kreide wanderte in die Tasche zurück. Marietta entnahm ihr jetzt einen anderen Gegenstand, den sie brauchte.
Es handelte sich um ein kleines Büchlein. Am letzten Tag ihrer Anwesenheit bei der Tante hatte sie es aus der Bücherei entwendet.
Wahrscheinlich hatte man den Diebstahl inzwischen längst bemerkt. Aber ob man ausgerechnet auf sie als Täterin kommen würde?
Und wenn schon – ihr konnte man nichts mehr anhaben.
Marietta schlug die entsprechende Seite auf. Hier war beschrieben, wie man den Teufel beschwören konnte.
Der magische Kreis, den sie mit der Kreide gemalt hatte, war davon ein wichtiger Bestandteil. Sie hatte darüber auch in anderen Büchern gelesen.
Laut las sie die Zeilen vor, die auf dieser Seite standen. Es waren alles Sätze, die sinnlos klangen und sich häufig Wörter bedienten, die einer anderen Sprache entliehen zu sein schienen.
Die Wirkung blieb aus.
War der Autor des Büchleins nur ein Scharlatan
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