Marlene Suson 1
Krankheiten armer Leute zu behandeln.‚
„Aber du und deine Mutter, ihr habt es doch schon seit Jahren getan!‚ rief Eleanor. „Was hätten die Leute nur ohne euch ge- macht?‚
Und was sollte Rachel ohne sie tun! Es machte ihr Freude, ih- nen zu helfen. Es gab ihrem Leben so viel mehr Sinn, als leere, öde Tage mit Klatsch und Handarbeiten zu verbringen.
„Wie geht es dem kranken Kind jetzt?‚ fragte Eleanor.
„Es ist mir gelungen, das Fieber zu senken.‚ Hastig streifte Ra- chel die Jacke und den Rock ihres Reitkleides ab. Darunter trug sie nur noch ihre zarte weiße Wäsche. Als sie hörte, wie krank das Kind war, hatte sie keine Zeit damit verschwendet, frische Unterröcke anzuziehen. Sie hatte nur rasch ihre Arzneitasche geholt und war stehenden Fußes zum Haus des Pächters geeilt.
„Ich bewundere deinen Mut‚, sagte Eleanor. „Ich brächte es nicht fertig, mich womöglich ansteckenden Krankheiten auszu- setzen, um Menschen zu helfen, die nicht einmal zur Familie ge- hören.‚
Für Rachel dagegen waren alle Pächter ein Teil der großen Wingate-Familie. Deshalb hielt sie es auch für ihre Pflicht, sich um deren Wohlergehen zu kümmern. Es war die Maxime, nach der auch ihre Eltern gelebt hatten.
Nervös fingerte sie an den Bändern ihres Mieders herum. „Wes- halb bin ich nur immer so ungeschickt, wenn ich mich beeilen muß? Ich darf zum Dinner nicht zu spät kommen, sonst will Tante Sophia bestimmt den Grund wissen.‚
„Sag doch einfach, daß du auf mich gewartet hast‚, schlug Eleanor vor. „Außerdem wird Fanny bestimmt noch später kom- men. Bei dem Aufhebens, das sie um ihre Toilette macht, wird es bestimmt noch eine Stunde dauern. Man könnte meinen, sie ginge heute abend auf einen Ball bei Hofe.‚
„Und weshalb das ganze?‚ Rachel zog das Mieder aus und trat an den kleinen Waschtisch. Ein heißes Bad wäre ihr lieber gewe- sen, doch dafür war keine Zeit mehr. Statt dessen goß sie Wasser aus dem Krug in die Schüssel.
„Fanny beabsichtigt, die Herzogin von Westleigh zu werden.‚ Rachel war so schockiert, daß ihre Stimme sich überschlug. „Aber sie ist doch mit meinem Bruder verlobt!‚
„Sie glaubt nicht mehr an Stephens Rückkehr‚, sagte Elea- nor bedrückt. „Seit seinem Verschwinden ist schon ein Jahr ver- gangen.‚
„Ich weiß, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß er noch am Leben ist.‚ Rachel spürte einen Kloß im Hals. Sie liebte ih- ren charmanten Bruder über alles, obwohl seine unbekümmerte Verantwortungslosigkeit sie zuweilen zur Verzweiflung trieb.
„Wunderst du dich denn gar nicht über Fannys plötzlichen Überraschungsbesuch auf Wingate Hall, obwohl ihr Yorkshire doch so zuwider ist?‚
„Doch, schon. Tante Sophia war ganz grün vor Wut, als sie un-
geladen hier auftauchte. Fanny behauptete, sie wäre hergekom- men, weil sie Stephen so vermisse und sich ihm hier nahe fühle.‚
„Sie ist gekommen, weil sie von Westleighs Besuch erfahren hat‚, sagte Eleanor trocken. „Sie will sich den Herzog schnap- pen.
„Wie kann sie dem armen Stephen so etwas antun?‚ fragte Rachel, tief bekümmert über Fannys Wankelmut. Während sie in einen Reifunterrock stieg, sagte sie: „Ich bin ganz sicher, daß mein Bruder noch am Leben ist und eines Tages zurückkehrt.‚
„Fanny teilt diese Überzeugung nicht, und sie ist wild ent- schlossen, einen anderen, möglichst wohlklingenden Adelstitel zu ergattern. Mit Fannys affektierter Piepsstimme zitierte Eleanor: „Westleigh ist eines der ältesten und ruhmreichsten Herzogtümer des Königreichs.‚
„Typisch Fanny‚, sagte Rachel und nahm ein senffarbenes Ge- wand aus dem Schrank.
„Fanny ist ja verrückt, wenn sie glaubt, sich Westleigh angeln zu können. Jede auch nur halbwegs präsentable Debütantin in London hat das versucht, und keiner ist es gelungen. Man sagt, er trägt die Nase so hoch, daß er keine Frau für würdig erachtet, seine Herzogin zu werden.‚
„Dann hatte Stephen ja recht, als er ihm Arroganz und Hoch- näsigkeit vorwarf. Ich bin selbst nicht gerade begeistert davon, seine Bekanntschaft zu machen. Hat er sich tatsächlich noch nie für eine Frau interessiert?‚
„Er war einmal verlobt, vor Jahren. Mit Cleopatra Macklin. Sie galt damals als die Schönheit der Saison, aber er hat sie sitzen- lassen.‚
„Sitzenlassen?‚ wiederholte Rachel schockiert. „Aber ein Gentleman tut so etwas ...‚
„Westleigh ist kein Gentleman‚, fiel Eleanor ihr ins Wort. „Er
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