Marlene Suson 1
Rachel viel schwerer als sein Stand. Obwohl er für einen Be- diensteten schockierend unverblümt gewesen war, bewunderte sie ihn dafür, auszusprechen, was er dachte. Doch er würde teuer dafür bezahlen, falls Fanny den Herzog dazu brachte, ihn ohne Zeugnis zu entlassen.
Geistesabwesend nahm Rachel einen Fächer aus der Kommode.
Sie würde, nein, sie durfte nicht zulassen, daß Fanny ihm derart übel mitspielte, nachdem er so viel Mut bewiesen hatte.
„Ach, du meine Güte!‚ rief Eleanor. „Ich habe meinen Fächer vergessen. Ich muß schnell noch mal in mein Zimmer, bin aber gleich wieder zurück.‚
Rachel nickte zerstreut. Ihre Gedanken waren noch immer bei dem Problem, wie sie den Reitknecht vor Fannys Rache schützen konnte.
Man mußte dem Duke of Westleigh klar machen, wie tapfer der Mann gewesen war. Rachel mußte mit ihm sprechen, bevor Fanny Gelegenheit hatte, ihr Gift zu versprühen. Waren sie aber erst einmal unten im Salon, würde Rachel vielleicht keine Gele- genheit mehr bekommen. Sie mußte mit ihm sprechen, bevor er zum Dinner hinunterging.
Sie durfte jetzt keine Zeit mehr verlieren. Kurz entschlossen eilte Rachel zu der Zimmerflucht, die für den Herzog vorbereitet worden war, und klopfte, bevor der Mut sie verlassen konnte.
Ein großer, kantiger, schwarzgekleideter Mann öffnete die Tür. Sein Anzug war untadelig, wenn auch – trotz der blütenweißen Weste – überraschend schlicht und düster für einen Mann vom Range des Herzogs. Rachel fragte sich, ob er vielleicht in Trauer war.
Sie schaute auf in sein hageres, langes Gesicht, und ihr Mut sank bei seinem hochmütigen Ausdruck. Er sah aus wie ein Mann, dessen Herz – falls er je eines besessen hatte – vor langer Zeit verdorrt war. Kein Wunder, daß Stephen ihn ablehnte.
Er hob eine Braue und musterte Rachel schweigend.
„Euer Gnaden, ich bin gekommen ...‚
„Ich bin nicht Seine Gnaden‚, unterbrach er sie kühl. „Ich bin der Kammerdiener des Herzogs.‚
Rachel errötete vor Verlegenheit. Großer Gott, wenn schon sein Kammerdiener so hoheitsvoll war, was hatte sie dann erst vom Herzog selbst zu erwarten?
Am liebsten hätte sie sich umgedreht und wäre davongelaufen. Dann dachte sie daran, was dem armen Reitknecht bevorstand, wenn Fanny Westleigh erst bearbeitet hatte. Rachel straffte den Rücken. Der Reitknecht war tapfer gewesen, und darum mußte sie es auch sein.
„Bitte, ich muß den Herzog sprechen.‚
Die Lippen des Kammerdieners kräuselten sich verächtlich. Rachel bemerkte es, hatte jedoch keine Ahnung, weshalb.
„Das ist unmöglich. Seine Gnaden ...‚
„Sie soll eintreten, Peters. Ich brauche Sie dann nicht mehr‚, befahl eine sonore Stimme, die Rachel irgendwie bekannt vorkam. Doch sie war noch immer so verlegen, weil sie den Kammerdie- ner für den Herrn gehalten hatte, daß sie nicht weiter darüber nachdachte. Vermutlich hatte der Herzog es auch gehört und sah darin gewiß eine unverzeihliche Beleidigung.
Die Anweisung Seiner Gnaden schien Peters zu überraschen.
Dennoch trat er stumm beiseite, ließ Rachel eintreten und schloß dann die Tür hinter ihr. Rachel war froh, daß der Herzog den Kammerdiener fortgeschickt hatte. Mit Peters strengem Blick im Rücken wäre es ihr noch schwerer gefallen, sich für den Reit- knecht einzusetzen.
Der Duke of Westleigh stand neben dem großen, mit Schnit- zereien reich verzierten Himmelbett, dessen Vorhänge aus dun- kelrotem Brokat waren. Nach der peinlichen Verwechslung war Rachel viel zu beschämt, um ihn offen anzusehen.
Er trat auf sie zu, doch sie wagte noch immer nicht, den Blick höher als bis zu seiner Brust zu heben. Sein kleidsamer mitter- nachtsblauer Rock umspannte in perfektem Schnitt seine brei- ten Schultern. Überrascht stellte sie fest, daß sie das gleiche ei- genartige Gefühl empfand wie in dem Augenblick, als sie seinen Reitknecht aus dem Wasser kommen sah.
„Euer Gnaden‚, begann sie mit niedergeschlagenen Augen und so nervös, daß sie die Worte kaum herausbrachte. „Ich kam, um Ihnen zu sagen, wie tapfer . . . ‚
„Ich weiß schon, weshalb Sie gekommen sind‚, unterbrach er sie mit kalter, zynischer Stimme. „Sie möchten Sophia zuvor- kommen.‚
Rachel hatte keine Ahnung, wovon er sprach, und schaute über- rascht auf.
Im ersten Augenblick erkannte sie ihn nicht. Sein blondes Haar war ordentlich zurückgebürstet und im Nacken zusammenge- bunden, anstatt sich in nassen, wirren Locken um sein Gesicht zu ringeln. Dann
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