Marlene Suson 2
Lebens.
Wie sehr er sich doch getäuscht hatte! Er hatte geglaubt, es gäbe keine schlimmere Hölle als den Sklavendienst auf der Sea Falcon, aber gegen das, was ihn später erwartete, war dies nur ein Vorgeschmack gewesen.
Stephen wagte nicht, Meg auch den Rest seiner Geschichte zu erzählen. Es war eine zu phantastische Geschichte, als daß jemand sie hätte glauben können, und in Megs großen grauen Augen las er schon jetzt nur Zweifel und Mißtrauen. Er wollte sie ja nicht belügen. Er würde ihr nur einfach nichts von die- sem verfluchten Schiff erzählen, das ihn an Bord nahm, und was anschließend mit ihm geschah.
Es war ein Handelsschiff, dessen Ladung aus englischen Sträf- lingen bestand. Sie sollten nach Virginia gebracht und dort als Fronarbeiter verkauft werden. Die Reihen der angeketteten, halb verhungerten Sträflinge waren durch Krankheiten stark gelich- tet worden, und so hatte der schurkische, skrupellose Kapitän fast die Hälfte seiner menschlichen Fracht verloren.
Der Kapitän zögerte keinen Augenblick, Stephen in Ketten zu legen und ihm die Identität eines der unterwegs gestorbenen Sträflinge zu geben. Es war ein berüchtigter Verbrecher namens Billy Gunnell.
Die Wahl des Kapitäns war deshalb auf Gunnell gefallen, weil die Verbrechen dieses Mannes so abscheulich waren, daß sie ihm vierzehn Jahre Deportation einbrachten, anstatt der sonst übli- chen sieben Jahre. Die Käufer würden einen höheren Preis für einen jungen, kräftigen Mann zahlen, wenn er ihnen vierzehn Jahre zur Verfügung stand.
Es war Stephens Pech, daß er ausgerechnet an Hiram Flynt geriet, einen Plantagenbesitzer, der in der ganzen Gegend für seine Grausamkeit berüchtigt war. Stephens Hunde in England hatten ein wesentlich besseres Leben als Flynts Leute.
Für Stephen hatte es nur zwei Alternativen gegeben – fliehen oder sterben. Er war über die Berge geflohen in der Hoffnung, seinen Bruder George in New York zu erreichen.
„Wo wollten Sie hin, als Sie bei uns vor der Tür zusammen- brachen?“ fragte Meg.
„Ich erwähnte doch schon, daß ich einen Bruder in New York habe. Ich war auf dem Weg zu ihm.“
Ihre grauen Augen verengten sich argwöhnisch. „Dies ist aber nicht der Weg nach New York.“
„Ich habe nicht gewagt, in Küstennähe zu bleiben, weil ich Angst hatte, man würde mich erkennen. Dann hätte man mich womöglich wieder an Bord eines Schiffes gepreßt.“ Viel wahr- scheinlicher war es, daß einer von Flynts Kopfgeldjägern ihn aufspürte. Zweifellos hatte Flynt eine hohe Belohnung auf ihn ausgesetzt. „Dieses Risiko durfte ich nicht eingehen.“
„Weshalb wurden Sie ausgepeitscht?“
„Weil das auf der ,Sea Falcon’ an der Tagesordnung war.“ Das stimmte, doch die Prügel auf der Fregatte waren nichts im Ver- gleich mit dem, was er unter Flynt und seinen Aufsehern zu leiden hatte.
Erst jetzt kam Stephen zum Bewußtsein, daß er auf dem Rük- ken lag. Das hatte er dank Flynt und seiner Peitsche schon lange nicht mehr tun können. „Was haben Sie mit meinem Rücken gemacht? Er schmerzt kaum noch.“
Er sah, wie es Meg schüttelte. „Er war in einem fürchterlichen Zustand. Ich habe ihn mit einer speziellen Heilsalbe behandelt.“ Sie schien noch immer argwöhnisch zu sein. „Wie lange ist es her, seit Sie von dem Schiff gesprungen sind?“
„Weiß ich nicht genau. Ich habe jedes Zeitgefühl verloren.“ Auch das war wahr, doch er wußte natürlich, daß er das Schiff schon vor Monaten verlassen hatte. Das freilich wagte er ihr nicht zu sagen, sonst hätte er ihr auch erklären müssen, wo er in der Zwischenzeit gewesen war.
Megs Lippen wurden schmal. „Einige der Striemen auf Ihrem Rücken waren frisch.“
„Wenn Sie meine Geschichte nicht glauben, wofür halten Sie mich dann?“
„Für einen deportierten Sträfling, der seinem Herrn entflohen ist.“
Megan Drake mochte ein simples Mädchen sein, aber dumm war sie nicht. „Ich schwöre Ihnen, daß ich kein Sträfling bin. Ich bin ein englischer Gentleman, der einer Presserbande zum Opfer fiel. Ich habe in meinem ganzen Leben kein Verbrechen verübt und bin auch nie eines Verbrechens für schuldig befunden worden.“
Auch das war die reine Wahrheit. Stephen war zwar anstelle eines verurteilten Verbrechers verkauft worden, doch er hatte nichts Unrechtes begangen. Er selbst war das Opfer.
Skeptisch hob sie eine Braue. „Soll ich die Bibel bringen, damit Sie auch das beschwören können?“
Er sah sie offen an.
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