Marx, my Love
beleidigt abging. Sie watschelt schon ein bisschen, denkt Anna, und dass dies ein gutes Zeichen für eine werdende Mutter ist.
»Was ist mit Joy? Fjodor, spiel hier nicht herum, sie könnte in Gefahr sein. Selbst die Polizei glaubt nicht an einen Selbstmord.«
»Du meinst, sie ist…« Er greift mit der Hand an die Kehle. Sollte ihn jemals einer zu erwürgen versuchen, er würde ihn umbringen.
»Ja, meine ich, und wir sollten sie finden, bevor es zu spät ist.«
Fjodor streichelt nachdenklich sein Kinn: »Sie wollte zu einem Freund von Marilyn. So sagte sie. Keiner von den Kunden, sondern ein Jüngling, der in Marilyn wahnsinnig verliebt war. Der Name war… liegt mir unter der Zunge… irgendein altmodischer Maler…«
»Rafael«, sagt Anna. Sie hat ihn beinahe vergessen, und jetzt tut es wieder weh. Er taucht immer wieder auf, denkt sie, und das ist unfair. Und dass Rafael gelogen hat, als er sagte, dass hübsche, junge Mädchen ihm nichts bedeuten. Er war nur einfach nett. Und unaufrichtig. Und sie wird ihm mit der Distanz einer kaltschnäuzigen Detektivin begegnen. Darüber könnte sie beinahe lachen.
»Jaja, so hieß er. Aber frag mich nicht, wo der Jüngling wohnt. In einer Ruine im Osten. Und er arbeitet als Kellner, das ist unromantisch. Ich meine, Marilyn hätte etwas Besseres verdient, so schön, wie sie war.«
»Den Tod sicher nicht«, sagt Anna und legt einen Hundert-Euro-Schein auf den Tisch. »Ich muss los, Fjodor. Lass einfach alles anschreiben. Ich zahle heute Abend.«
»Du kannst mich doch nicht hier sitzen lassen!«, ruft Fjodor, doch Anna hört es nicht mehr, weil sie schon auf der Straße ist und nach einem Taxi sucht. Immer wenn sie eines braucht, steht keines am Stand. Busse neigen zu Verspätung oder Überfüllung. In U-Bahnen erschrecken Glatzköpfe die Passagiere, und Anna, sie weiß es, würde sich einmischen und vermutlich verprügelt werden. Das Leben ist nicht schön. Aber sie hat kein besseres. Und der Taxifahrer, der nun endlich auftaucht, sogar anhält und von innen die Wagentür öffnet, spricht den Fjodor-Akzent. Was sie daran erinnert, dass der Hunderter ihr letztes Bargeld war.
Sie lässt den Wagen an einem Bankomaten halten, und einen schrecklichen Augenblick lang fällt ihr die Geheimnummer nicht ein. Das Leben besteht aus Zahlen, in wirklich jedem Sinn des Wortes. Sie schließt die Augen und wartet auf die Eingebung, die schließlich kommt. Sie tippt die Zahlen ein, der Automat schiebt Geld aus dem Schlitz, und sie steigt wieder ins Auto.
»Sie sehen gestresst aus«, sagt der Fahrer und hält ihr einen Vortrag über den liebevollen Umgang mit Zeit. Er ist eigentlich Schriftsteller und auf Seite tausendfünfhundertsiebzig seines Werkes, dessen Titel Das Tempo der Schnecke lautet. Bevor er ihr den Inhalt erklären kann, fahren sie vor der Villa vor, die Fjodor eine Ruine nannte, womit er nicht ganz falsch liegt. Als Anna Geld aus der Tasche holt, sieht sie die Visitenkarte des Bullen. Nein, sie wird ihn nicht anrufen. Jetzt noch nicht. Zuerst muss sie mit Joy sprechen. Und wenn es sein muss, wird sie wieder durchs Fenster gehen. Es war kein guter Einstieg in diese Geschichte. Und der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, dass sie noch böser enden wird.
19. Kapitel
Lily sitzt auf der Fensterbank, genau dort, wo Anna schon einmal eingestiegen ist. Anna hat nicht geklingelt, sondern ist ums Haus gegangen, durch das Gestrüpp, das einmal ein Garten war. Dieses Mal entdeckte sie ein kleines Holzhaus, versteckt hinter den Himbeersträuchern und Kastanienbäumen. Ein Farbenblinder hatte es einmal giftgrün gestrichen, doch Efeu und Moos haben von dem Holz Besitz ergriffen und die Farbe auf ein erträgliches Maß reduziert. Es riecht nach faulem Obst oder Abfällen, die nicht entsorgt wurden.
Lily trägt ein weißes Kleid, das an eine längst vergangene Hochzeit erinnert. Es ist zu groß und zu weit und wie ein Schleier um sie ausgebreitet. Lilys Augen sind geschlossen, und sie kaut an einem Grashalm, doch sie hat Annas Schritte gehört.
»Hi, Marlowe. Hast du Harry gefunden?«
Anna steht unter dem Fenster und sieht zu Lily hoch. »Noch nicht. Zurzeit bin ich auf der Spur eines Mädchens. Marilyns Freundin Joy: Sie soll bei Rafael sein. Sind die beiden nicht hier?«
Lily öffnet ihre großen Augen, die alles und nichts zu sehen scheinen. Sie sieht Anna lange an. »Ist es nicht schrecklich, immer auf der Suche zu sein?«
Lily scheint keine Antwort zu
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