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Marx, my Love

Marx, my Love

Titel: Marx, my Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Grän
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Satz die Situation. Sibylle greift zum Taschentuch; der Gast, der sich ungebeten einmischte, gibt eine Lokalrunde, und Freddy ist damit beschäftigt, Bier zu zapfen. Der koreanische Koch, der so wundervolle Gulaschsuppe zubereitet, ist zwar immer noch depressiv, doch er steht in der Küche und leidet leise. Freddy hat einmal behauptet, dass seine Tränen den Speisen die letzte Würze geben, doch daran möchte Anna jetzt nicht denken. Sie lächelt Sibylle aufmunternd an, widmet sich dann ihrem Gulasch und sagt zwischen zwei Bissen zu Fjodor: »Du weißt, wo Joy untergetaucht ist. Nun sag es mir endlich.«
    Er kaut schweigend und hingebungsvoll. Anna hat ihn eingeladen, und er hat vor, noch mindestens zwei Speisen zu bestellen, denn Onkel Wanja ist aus der Stadt verschwunden und damit seine einzige Geldquelle in Notzeiten. Er ist Künstler, und die Zeiten sind immer voller Not. Eines Tages, wenn er ein großer Sänger ist, wird er sich daran erinnern, dass dies seine glückliche Periode war. Im Augenblick kann er dieses Gefühl nicht in sich entdecken. Er wird Anna anschnorren müssen, denn er kann die fällige Miete vorübergehend nicht bezahlen. Anna hat ein großes Herz, und außerdem will sie etwas von ihm, die Gelegenheit ist also günstig.
    »Ich brauche dringend zwei Hunderter, sonst bin ich nächste Woche obdachlos«, sagt Fjodor. »Geliehen natürlich. Mein Agent sagt, dass ich nächsten Monat ein Engagement auf einem Ausflugsschiff habe, dann bin ich gerettet, und du bekommst das Geld zurück.«
    »Du hast keinen Agenten«, sagt Anna.
    »Ja, aber das Schiff gibt es. Es fährt erst ab Juni, und sie wollen einen großen Sänger. Das bin ich.«
    Anna seufzt. Geld zu verleihen ist die sicherste Methode, sich Feinde zu machen. Schenken ist der bessere Weg. Schenken und darauf vertrauen, dass das Gute in irgendeiner Form zurückkommt. Blöd ist das auch, aber wer möchte schon in einer Welt von Kredithaien leben? »Ich habe nur hundert dabei. Würdest du in Erwägung ziehen, die andere Hälfte von Sibylle anzunehmen? Ich werde sie fragen.«
    »Dann schulde ich zwei Frauen. Das ist kompliziert.« Fjodor streicht über sein dreifaches Kinn, das er liebt, weil es die größte Stimme aller Zeiten schützt.
    »Weißt du überhaupt, wo Joy ist?«
    »Irgendwie schon. Sie hat mich angerufen. Ein verzweifeltes Wesen, wie Doktor Kimble auf der Flucht. Sie hat mich gefragt, ob sie bei mir sein kann, aber ich musste ablehnend auftreten.«
    Fjodor studiert in tragischer Pose die Tageskarte, nachdem er die Suppe bis auf den letzten Tropfen ausgelöffelt hat.
    Herzloses Ungeheuer, denkt Anna und zündet sich eine Zigarette an, um ihm den Rauch ins Gesicht zu blasen. Wenn er jetzt das Fenster öffnet, wird ein Luftzug seine Stimmbänder ruinieren. Er dreht sein Gesicht zur Seite. »Ich möchte keinen geblasen haben, Anna.«
    Die Vorstellung ist überirdisch. »Warum hast du Joy nicht aufgenommen?«
    »Weil ich ein Künstler bin. Und feige. Und voller Hunger auf Ziegenkäse mit Tomaten und Thymian. Außerdem ist es schwierig, mit einem so schönen Mädchen auf kleinem Raum zu sein. Wenn man impotent ist. Es würde mich traurig machen, verstehst du?«
    Irgendwie versteht Anna das. Und bläst ihren Rauch woandershin. »Wohin ist Joy dann gegangen? Hat sie dir das gesagt?«
    Fjodor bestellt bei Sibylle Ziegenkäse mit viel Brot. Und Rotwein, weil dieser gut für seine Stimme ist. Die Wirtin hat rote Augen, doch sie lächelt wieder. Die Entscheidung dieses Augenblicks ist, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Vorhin, in der Küche, hat sie dem Koch erzählt, dass sie schwanger sei, und er hat zum ersten Mal seit Wochen gelächelt. Das ist ein gutes Omen. Sie wird es auch Freddy sagen, überhaupt allen Leuten, und dann ist dieses Kind sozusagen öffentlich und vor Sibylles Zweifeln sicher. »Ich bin schwanger«, sagt sie zu Fjodor, der mit den Augen rollt und ihr dann heftig die Hand schüttelt. »Du musst dem Bauch Opern vorspielen«, sagt er, »dann wird es ein musikalisches Kind.«
    »Wo ist Joy?«, fragt Anna.
    »Ihre Stimme ist nicht so schön«, erwidert Fjodor, »und zurzeit sehr panisch. Sie fühlt sich von Onkel Wanja im Stich gelassen, und sie ist ganz hysterisch wegen Marilyn. Ein schrecklicher Tod, nicht wahr? Ich würde singen, bis ich am Boden gelandet bin.«
    »Was?«, fragt Anna und könnte sich ohrfeigen.
    »Mozart, was denkst du denn?« Fjodor sieht Sibylle hinterher, die der Konversation nicht folgen konnte und etwas

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