Marx, my Love
des Mädchens seinen Namen zu nennen. Und er tat, womit Anna nie gerechnet hatte: Er überfuhr den Jungen mit seinem Wagen, einmal vorwärts und einmal rückwärts, um ganz sicherzugehen. Dann stellte er sich der Polizei mit den Worten, dass er den Mörder zur Strecke gebracht habe.
Er hat Anna Marx nicht ins Spiel gebracht. Er hat sie geschont, aber sie wusste es. Und lebte fortan damit, sich am Tod eines Jungen mitschuldig zu fühlen. Sie tut es jetzt noch, obwohl es ihr immer öfter gelingt zu vergessen. Die Verdrängung des Schmerzes oder der Wut, die sich gegen einen selbst richtet, funktioniert bis zu dem Punkt, an dem eine Assoziation die Erinnerung wachruft. Genauso hat es gerochen, als sie bei der Obduktion des toten Mädchens dabei war, auf Wunsch des Vaters, des Mörders.
»Ich möchte ins Haus gehen und etwas trinken«, sagt Lily. »Es ist heiß heute.«
Anna ignoriert den Satz und folgt ihrer Nase, die sie zu dem kleinen Haus führt, in einem großen Garten, der einmal für die Bonzen angelegt worden war und heute so verrottet ist wie das System, in dem er blühen durfte. »Später, Lily. Ich will wissen, woher der Gestank kommt.«
Lily ergreift Annas Arm. »Ich kann es dir sagen: Er kommt aus der Tiefkühltruhe, die im Gartenhaus steht. Wir haben ein paar Lebensmittel dort gelagert, als im Haus kein Strom war. Und dann haben wir sie vergessen. Seit ein paar Tagen ist der Paraffinschrank kaputt, aber es hat niemand mehr nachgesehen. Harry hat manchmal dort übernachtet, wenn er allein sein wollte. Nicht einmal ich durfte ihn dort stören. Er war eben ein Künstler…«
Sie hat es schon wieder getan. Anna bleibt stehen und sieht Lily an wie eine strenge Mutter ihr Kind. Sie versucht es zumindest »Wieso war? Du sagst es schon zum zweiten Mal.«
Lily bedeckt mit den Händen ihren kahlen Kopf. Sie weicht Annas Blick aus. »Das habe ich nicht so gemeint. Du weißt, wie ich ihn liebe. Harry ist alles, was ich habe… außer diesem Kleid…«
Das Kleid hat Schmutzränder, und ihre Augen sind wie Glasperlen. Sie ist verrückt, denkt Anna, und ich bin es auch. Weil ich mit ihr in diesem Garten stehe und sie beschützen will und weiß, dass ich es nicht kann. »Natürlich liebst du ihn. Aber wir müssen jetzt herausfinden, woher dieser Gestank kommt. Sonst wird irgendein Nachbar die Polizei holen… ein Bulle war ja schon da.«
»Aber er war sehr nett.«
Nein, denkt Anna, das war er nicht. Er täuscht durch sein gütiges Lächeln und die Gemütlichkeit, die man den Dicken andichtet. »Komm, Lily, wir gehen jetzt in dieses kleine Haus. Es ist gar nicht bedrohlich.«
Ist es doch. Je näher sie kommen, desto giftiger wird die Farbe und durchdringender der Geruch. Anna widersteht dem Impuls umzukehren. Sich der Furcht zu ergeben ist der erste Schritt in den großen Schlaf.
»Nein.« Lily bleibt stehen und stampft mit dem Fuß auf. »Es gehört Harry. Er hat mir verboten, ihn dort zu stören.«
Er ist da drin, Anna ist jetzt ganz sicher. Aber wie hält Harry Loos diesen Gestank nur aus? Der Gedanke, dass er Rosi ausgegraben und in dieses Haus gebracht hat, ist mehr als absurd. Die Produzentin liegt in einem Grab, das mit Blumen und Kränzen übersät ist. Das Begräbnis war ein feierlicher Akt, der sogar im Privatfernsehen übertragen wurde. Selbst der Oberbürgermeister erwies Rosamunde Stark die letzte Ehre… »Dann gehe ich allein, Lily… bleib einfach hier stehen und warte auf mich.«
Anna geht ein paar Schritte und dreht sich vor der Tür noch einmal um. Lily hat sich hinter einem Kastanienbaum versteckt, sie sieht nur das weiße Kleid hinter dem Stamm hervorleuchten. Anna winkt, obwohl es eine sinnlose Geste ist, und dann konzentriert sie alles, was mutig an ihr ist, in ihrem rechten Fuß und tritt gegen die Holztür. Sie hält sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu, während die Tür knarrend aufspringt…
Spinnweben streifen ihr Gesicht, als sie durch die Tür geht. Tageslicht fällt auf einen mit Staub bedeckten Holzboden, die Matratze, einen Stuhl und Klapptisch, auf dem eine leere Whiskyflasche steht. Anna wünscht sich, sie wäre voll, denn in diesem Raum ist der Gestank so überwältigend, dass nicht einmal eine blockierte Nase ihm standhalten kann. Dennoch geht sie weiter, auf die Tiefkühltruhe zu, die einmal weiß war und jetzt voller Rostflecken ist.
»Harry?«, sagt sie leise, als sie vor der Truhe steht. Männlicher Beistand wäre jetzt erwünscht, doch hat sie nicht gelernt,
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