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Marx, my Love

Marx, my Love

Titel: Marx, my Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: CHRISTINE GRÄN
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geschwellter Brust auf der Suche nach unsterblichem Ruhm; eine alte Frau, die Kräuter verkaufte und dabei Arien sang.
    Eine Weile rätselte Anna über sein Ziel, doch kurz vor der Oberbaumbrücke war es ihr klar. Rosi Starks Büro lag dort, drei Stockwerke hoch und ein wenig protzig mit der Marmor- und Glasfassade. Das Schild war zu groß geraten und das Logo eindeutig protzig: eine Frau, die den Oscar in der Hand hält. Hat sie nicht verdient, dachte Anna, weil sie bisweilen von Missgunst beseelt war. Harry steuerte auf das Haus zu. Die Detektivin, in zwanzig Meter Abstand, folgte ihm. Ein wenig atemlos, denn er war schneller als sonst gegangen.
    Schlichtschlichtschlicht drehte sich in ihrem Kopf und lenkte von der Frage ab, was zum Teufel Harry in der Firma wollte. Man würde ihn nicht vorlassen. Und mit vorgehaltener Waffe?
    Ein paar Meter vor dem Haus blieb er stehen. Sah nach oben. In den so blauen Himmel oder auf das Büro im obersten Stockwerk, in dem Rosamunde zu vermuten war. Eine Bombe? Nein, er starrte nur auf das Gebäude. Anna, in sicherer Entfernung, griff wieder einmal nach ihren Zigaretten. Warten. Dann ging er plötzlich durch die Glastür, so schnell, dass sie ihn nur noch im Haus verschwinden sah. Wenn er sie erwischt, dachte Anna, ist der Auftrag auch erledigt. Gewissermaßen. Kamikaze-Flieger sind nicht aufzuhalten, und das einzig Sinnvolle war, ihre Auftraggeberin zu warnen.
    Anna kramte in ihrer Handtasche nach dem Handy. Eines Tages würde sie eine Tasche kaufen, in der man alles auf Anhieb findet. Dann wählte sie Rosis Nummer, immerhin eingespeichert, und war mit der Sekretärin verbunden. Der Boss war nicht da, doch Anna sagte dennoch ihren Spruch auf: Harry Loos habe soeben das Gebäude betreten.
    Den hätten sie schon längst wieder rausgeworfen, antwortete die Sekretärin, dann legte sie auf. Wo hatten sie ihn hin verfrachtet? In ein unterirdisches Verließ für renitente Drehbuchautoren? Anna sah keine Spur von Harry, nur Japaner mit Fotoapparaten, die aus unerfindlichen Gründen das Haus ins Visier genommen hatten. Und dann sah Anna ihn: Er stand auf der Brücke und warf mit Steinen gegen die großen, gläsernen Scheiben. Die Japaner, die das auch bemerkt hatten, waren entzückt und fotografierten ihn.
    Harry war nicht schlecht mit seiner Trefferquote, doch die Steine waren zu klein, um die Scheiben zu Bruch zu bringen. Die Szene, dachte Anna, hat etwas Symbolisches: Kiesel gegen Panzerglas. Es war kein Panzerglas, aber trotzdem. Sie rief nochmals an und sagte der Sekretärin, dass auf der Brücke ein kleiner Junge stehe, der mit Steinen werfe.
    »Ach nee, harn wer och schon bemerkt«, war die Antwort. Und bevor die Sekretärin auflegte, sagte sie noch, dass bereits die Polizei informiert sei. Anna hörte die Sirene, bevor sie das grüne Auto sah. Und hoffte, dass Harry dies auch tat, sie konnte ihn nicht gut warnen. Doch er rannte schon: über die Brücke an den Japanern vorbei in eine Seitenstraße, er war ein schneller Stadtläufer, und als die Bullen am Tatort eintrafen und zwei von ihnen recht behäbig ausstiegen, war er längst verschwunden.
    Zielobjekt um 11.40 Uhr aus den Augen verloren, notierte Anna in ihr kleines Buch, als sie im Bus saß. Die Frau ohne Orientierungssinn steigt auch in falsche Busse oder U-Bahnen. In diesem öffentlichen Verkehrsmittel landete Anna am Ku’damm. Er war zu einer belanglosen Straße mit austauschbaren Billigläden verkommen, überhaupt begannen sich alle Hauptstraßen aller Städte zu gleichen, die Globalisierung der Bekleidungs- und Fastfoodketten triumphiert über nationale Identitäten. Die Straßenhändler sehen auch überall gleich aus: anders. Das Berliner Herz schlägt multikulturell, überwiegend, und auch den rheinischen Eroberungsfeldzug hat es fast unbeschadet überstanden. Die Stadt hat Humor. Er ist schräg, gemein und verletzend, aber nicht ohne heilende Wirkung für Einzelkämpfer vom Schlag der Anna Marx. Und nicht zum ersten Mal dachte sie, dass sie den völlig falschen Beruf gewählt hatte, verführt von Raymond Chandler.
    Schlichtschlichtschlicht drehte sich in Annas Kopf, als sie sich, erschöpft von Beschattung und Irrfahrt, in ein Cafe setzte und die zerknüllten Blätter, die sie aus Harrys Mülltonne gefischt hatte, hervorholte. Schlicht erfolglos, dieser Tag, wenn man von der außerirdischen Begegnung mit einem tadellosen Körper absah. Sie bestellte Kaffee und blätterte in den Papieren. Harrys Ideenskizzen: ein Film

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