Masken der Begierde
fehlten gänzlich, und die Außenanlagen waren überwuchert von Unkraut.
Lucas und Violet ließen ihre Pferde stehen und gingen zur Eingangstür. Sie fanden sie angelehnt vor und warfen sich verwunderte Blicke zu, ehe sie eintraten.
Die Halle war düster und schmuddelig. Violet erkannte Umrisse an den Wänden, wo einst Gemälde gehangen haben mussten, nun aber kahle Flecken prangten. Es roch muffig, als wäre lange nicht mehr gelüftet worden, und Totenstille lag über dem Haus. Sie lief nach rechts, doch Lucas hielt sie zurück und bedeutete ihr, leise zu sein.
Eine Tür am anderen Ende der Diele stand einen Stück offen. Lichtschein drang aus dem dahinterliegenden Raum in den Flur.
Violet lief ein kalter Schauer über den Rücken, als ein klägliches Schreien erklang. Eine dürre, weiß-beige Katze tapste aus der Tür. Sie entdeckte Violet und Lucas, und ihre Augen funkelten heimtückisch, mochte Violet schwören. Aufdringlich maunzend kam das Tier näher und ließ Lucas und Violet nicht aus den Augen. Sie rieb ihren Körper an Lucas’ Beinen, und helle Haare blieben am Stoff seiner dunklen Hose kleben. Er nieste und schubste das Tier mit dem Fuß davon. Er zuckte entschuldigend mit den Schultern, während der Haustiger beleidigt davontrabte.
„Ist da jemand?“, rief Neil aus dem Raum, den die Katze verlassen hatte.
Energisch folgte Lucas der Stimme und trat ein. Violet kam ihm hinterher.
Sie fanden sich im Arbeitszimmer wieder. Hier wies nichts auf den Verfall und die Vernachlässigung des Hauses hin. Moosgrüne Damastvorhänge umrahmten die Fenster, und Silberleuchter standen auf den Fensterbänken. Ein gediegener, ausladender Schreibtisch sowie edle Ledersessel davor und dahinter vermittelten den Eindruck wohlgeordneter Verhältnisse.
Neil strich sich sein Haar zurück und ließ seine Augen nervös zwischen Violet und Lucas hin und her wandern. Er zerrte an seinem Kragen.
„Lucas, was führt dich hierher?“ Seine Stimme bebte kaum merklich.
„Du wirkst verwundert, Neil. Hat das einen bestimmten Grund?“, erkundigte sich Lucas scharf.
„Setz dich, Lucas. Ihr ebenfalls, Miss Delacross.“
Violet war sich nicht sicher, ob die Verballhornung ihres Namens ein Zeichen von Geringschätzung oder Nervosität war. Sie entschloss sich, nicht darauf einzugehen. Es gab Wichtigeres zu klären.
Neil schien Lucas’ abgerissenen Hemdkragen zu bemerken, den die Jacke leider nicht verdeckte. Er räusperte sich ein paarmal und wischte sich über die Stirn.
„Du schwitzt. Fühlst du dich unwohl?“, fragte Lucas gefährlich ruhig.
Neil schüttelte den Kopf. „Was willst du, Lucas? Du wirkst ein wenig von Sinnen“, begann er. Er konzentrierte sich auf Violet. „Ich bedaure, dass Ihr es auf diese Weise erfahren müsst, aber Lucas hat ernste Probleme. Seine geistige Konstitution …“
„Meine geistige was?“, schnappte Lucas.
Neil zuckte zusammen und noch einmal, als Lucas mit einer zornigen Armbewegung die Gegenstände von seinem Tisch fegte. Wild stoben die Blätter zu Boden, mitten hinein in ein zerborstenes Tintenfass, einen Whiskytumbler und die Überreste von Pfeifentabak.
„Wo ist Allegra?“, knurrte Lucas.
Sein ganzer Körper schien angespannt und bebte gleichzeitig vor Wut. Er wirkte auf Violet wie ein Berserker. Ein unglaublich wütender Berserker. Doch während Neil zitterte, verspürte sie nicht den Hauch von Unbehagen. Im Gegenteil, nie hatte sie sich sicherer in Lucas´ Gegenwart gefühlt wie in diesem Moment.
„Allegra? Aber das weißt du doch?“ Neil schluckte sichtlich nervös. Er setzte sich und schob seinen Stuhl näher an den Tisch. Seine Hände wurden von der Tischplatte verborgen. Wieder wandte er sich an Violet. „Er selbst hat mich beauftragt, sie aus Halcyon Manor fortzuschaffen.“
„Ihr habt ihn angelogen“, bekundete Violet ruhig. „Ihr habt behauptet, sie zu Lady Pikton gebracht zu haben. Dort ist sie nicht.“
Lucas sprang um den Tisch herum und zerrte Neil von seinem Stuhl hoch. „Du verlogenes Aas! Wo ist meine Schwester? Wo hast du sie hingebracht?“
Violet sah das Aufblitzen des Metalls einen Bruchteil, bevor Lucas es bemerkte. Erschrocken schrie sie auf.
Lucas packte Neils Handgelenk und brachte seinen Cousin dazu, das Messer fallen zu lassen. Lucas schubste das Messer unter den Schreibtisch, außer Neils Reichweite. Verbissen rangen die Männer miteinander. Neil, der kleinere und schmächtigere der beiden, hatte Lucas im Grunde nichts
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