Maskenball
dass auch sein Geist verbraucht ist. Wir werden von den Jungen oft unterschätzt. Wir sind keine kleinen Kinder, die man an die Hand nehmen muss. Nein, das Licht bleibt aus. Wir wollen doch niemanden anlocken, oder? Schon gar nicht ihre Kollegen. Ich brauche jetzt Zeit, ich muss mich ein bisschen ausruhen, und ich muss nachdenken. Die Situation hat sich völlig verändert. Mein Plan kann jetzt nicht mehr funktionieren. Ich muss mich neu aufstellen. So sagt man doch heute in der Wirtschaft? Nachdenken. Das kann ich am besten in der Dunkelheit. Sie brauchen keine Angst vor dem Schwarz zu haben. Schwarz ist die Farbe, die uns einen Vorgeschmack auf unser Ende gibt. Es wird uns schwarz vor Augen, wenn wir gehen müssen. Es wird das Letzte sein, was wir wahrnehmen: Tiefschwarze Dunkelheit. Sie wird uns aufnehmen, und wir werden fallen, hinein in das Unbekannte. Wie Blätter. Schwarz ist die Farbe unserer Bestimmung. Schwarz ist die Farbe der Intelligenz, die Farbe der Künstler. Sie sind sensibel. Sie haben erkannt, worauf alle Farbigkeit letztlich endet. Wenn alle Blätter gefallen sind. Ich liebe jetzt die Dunkelheit. Sie hat mir einmal Angst gemacht, aber das ist lange her. Ich habe meine Mission erfüllt. Ich kann mich endlich fallen lassen.«
Viola Kaumanns hatte beide Hände hinter sich auf die Wand gelegt. Sie spürte die Pistole jetzt an ihrem Kopf. Sie roch das Metall und das Öl in der Mechanik. Langsam ließ sie sich an der Wand hinabgleiten. Der Lauf der Pistole folgte ihrer Bewegung.
»Ja, setzen Sie sich nur. Machen Sie es sich doch bitte bequem, meine Liebe. So ist es für uns beide angenehmer.«
Viola Kaumanns war verzweifelt. Was sollte sie tun? Was konnte sie überhaupt tun? Sie war in der Gewalt eines Mannes, der nichts mehr zu verlieren hatte, der nur noch an sein Ende dachte, gefangen in seiner eigenen Welt. Heinrich Krüger war ein kranker Mann. Aber sie musste versuchen, in diese seine Welt hineinzufinden. Das war ihre einzige Chance, dann konnte sie ihn vielleicht dazu bewegen, die Pistole abzulegen.
»Sitzen Sie bequem?« Krüger drückte den Lauf der Pistole gegen die Schläfe der Beamtin.
Obwohl er es nicht sehen konnte, nickte sie stumm.
»Fein, mein Kind. Ich freue mich, dass es Ihnen gut geht. Wir wollen jetzt gemeinsam überlegen, wie es weitergeht. Was meinen Sie? Wollen Sie nicht mitkommen auf meine Reise? Sie können sich eine Menge ersparen. Denn wer weiß, was Ihnen in Ihrem Leben noch alles droht.« Krüger klang liebenswürdig, so als habe er ihr ein unerwartet großzügiges Angebot gemacht. Ein Angebot, das sie nicht würde abschlagen können.
»Ich soll mich hier mit Ihnen umbringen? Sie sind doch wahnsinnig. Nein, ich will leben. Und ich werde leben.«
Krüger blieb völlig unbeeindruckt. »Bitte bedenken Sie, was Sie da sagen! Sie haben jetzt die Möglichkeit, auf dem Höhepunkt Ihrer Jugend abzutreten. Gesund und gut aussehend. Voller Energie und in bester geistiger Verfassung. Sie brauchen nicht weiter zu leben, bis Sie qualvoll Ihren eigenen Zerfall erleiden müssen. Sie leben auf Ihr Ende hin, jeder Tag bringt Sie näher an die Dunkelheit, die Sie sowieso nicht abwenden können. So viel Licht Sie auch machen. Und je weiter Sie fortschreiten, umso schwacher, hässlicher und kränker werden Sie. Sie werden hilflos und ohne Würde sterben. Aber so, heute, ist es besser. Von Ihnen wird es heißen, sie war so schön, als sie starb und sie ist gerne gegangen. Überlegen Sie es sich. Oder soll ich die Entscheidung für Sie treffen, meine Liebe?«
Viola Kaumanns hörte nahe an ihrem Ohr ein metallisches Klicken. Krüger hatte die alte Wehrmachtswaffe durchgeladen. Nur mit Mühe konnte sie einen Schrei unterdrücken. Ihr Herz pochte wild. Sie musste sich erst beruhigen, bevor sie etwas sagen konnte. Sie spürte es deutlich, Heinrich Krügers Gesicht war ganz nah. Der alte Mann war unberechenbar und gefährlich. Nur einen Herzschlag noch war sie von der tödlichen Kugel entfernt. Sie musste wieder an die grausamen Fotos denken. Wie Breuer da gelegen hatte, mit offenem Brustkorb, ausgeweidet wie ein Hähnchen. Was wollte Krüger mit ihr in diesem Operationssaal?
»Hören Sie, warum lassen Sie mich nicht einfach gehen? Sie haben ohnehin keine Chance. Meine Kollegen werden bald nach mir suchen, und sie werden mich finden. Geben Sie auf. Sie kommen hier nicht mehr raus, Krüger.« Viola Kaumanns hatte allen Mut zusammen genommen und versuchte, entschlossen zu klingen.
»Sie haben
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