Maskenball Um Mitternacht
nun beim Aussteigen behilflich war.
„Ja, Mylady. Offenbar sind die Bewohner noch wach und erwarten Sie.“ Die erleuchteten Fenster im Erdgeschoss warfen einen warmen Schein auf die Straße.
„Vielen Dank“, sagte Callie und drückte dem Mann eine Goldmünze in die Hand, obwohl er mit Sicherheit von Sinclair für seine Dienste und die Droschke bereits entlohnt worden war.
Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt; fröstelnd zog Callie die Kapuze tief in die Stirn, eilte die Steinstufen hinauf und bediente den Türklopfer.
Es dauerte nicht lang, bis die Tür von einer untersetzten dicklichen Frau in einem schlichten Baumwollkleid und weißer Schürze geöffnet wurde. „Ja?“
„Mrs. Farmington?“, fragte Callie.
„Ja, die bin ich.“
„Ich bin Lady Calandra Lilles. Ist er noch wach? Wo finde ich ihn?“
„Im Studierzimmer, Miss“, gab die Frau Auskunft und wies mit einen Flur entlang, an dessen Ende ein Lichtschein aus einer geöffneten Tür drang.
„Danke schön.“ Callie eilte auf den Lichtschein zu und hörte kaum, wie die Haustür hinter ihr ins Schloss fiel. Im Gehen schob sie die Kapuze in den Nacken, zog die Handschuhe aus und warf sie auf einen schmalen Tisch im Flur. Dann stürmte sie in das Zimmer.
Auf der Schwelle blieb sie jäh stehen und starrte fassungslos auf die Szene, die sich ihr bot.
Lord Bromwell ruhte ausgestreckt auf einem Sofa, halb von der Tür abgewandt, den Rücken bequem in die Polster gelehnt. Gehrock und Halstuch hingen über einem Stuhl, seine Weste war aufgeknöpft, der Hemdkragen offen. Neben ihm auf dem Fußboden stand ein Silbertablett mit einer Glaskaraffe, halb gefüllt mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. In einer Hand hielt er ein fast geleertes Glas.
Die beiden starrten einander eine Weile verständnislos an. Er fasste sich als Erster und rief: „Callie!“, stellte das Glas klirrend ab und kam mit einem Schwung auf die Beine, schien allerdings leicht zu schwanken.
„Was ist los?“, fragte er beunruhigt und näherte sich ihr. „Was ist geschehen? Geht es Ihnen gut?“
„Was in aller Welt tun Sie hier?“, platzte Callie heraus, die sich so weit gefasst hatte, um ihre Sprache wiederzufinden. Hatte Bromwell etwas mit dem Unfall ihres Bruders zu tun? Handelte es sich womöglich gar nicht um einen Unfall, sondern um ein Duell zwischen den beiden Männern? „Ich begreife das nicht. Wo ist Sinclair? Wie geht es ihm? Was ist passiert?“
„Sinclair?“, wiederholte er begriffsstutzig. „Wer ist …“ Dann bekam er große Augen. „Sie meinen Ihren Bruder? Rochford? Wieso zum Teufel sollte er hier sein?“
„Aber der Brief!“ entfuhr es Callie, sie wollte in die Tasche ihres Kleides greifen, um den Brief hervorzuholen, und hielt jäh inne. Plötzlich begann sich alles in ihrem Kopf zu drehen. Dutzende Ungereimtheiten wirbelten durcheinander und ergaben plötzlich einen Sinn. Die elegante Handschrift des Briefes, vermeintlich von einer einfachen Frau geschrieben, die auch die Adresse in der korrekten Form, in der die Tochter eines Dukes anzusprechen war, verfasst hatte … Die Unwahrscheinlichkeit, dass ihr Bruder sich in Buckinghamshire aufhielt … Die sorgfältig geplante und im Voraus bezahlte Reise.
„Sie haben mich hintergangen!“, entfuhr es ihr. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, Schwindel drohte sie zu übermannen.
Bromwell starrte sie weiterhin verständnislos an. „Wie bitte? Wovon zum Teufel reden Sie eigentlich?“
Aber Callie hörte nicht mehr zu. Ihre panischen Gedanken überstürzten sich. Spätnachts und mutterseelenallein in einer wildfremden Gegend gestrandet, war sie der Willkür eines fremden Mannes ausgeliefert. Von Mrs. Farmington – falls das überhaupt ihr richtiger Name war – konnte sie gewiss keine Hilfe erwarten. Ihr Ruf wäre für immer ruiniert. Diesem Gedanken folgte eine noch entsetzlichere Erkenntnis: Dieser teuflische Plan war nicht nur ausgeheckt worden, um sie zu kompromittieren. Bromwell hatte mit Sicherheit vor, ihr die Unschuld zu nehmen.
Sie hatte geglaubt, am Tiefpunkt ihres Kummers angelangt zu sein, als sie erkannt hatte, dass es für sie keine Hoffnung auf eine Zukunft mit Brom gab, doch nun stürzte sie in einen noch tieferen Abgrund. Bromwell liebte sie nicht, würde sie niemals lieben und heiraten, er brachte ihr zudem noch so wenig Achtung entgegen, dass er den Vorsatz gefasst hatte, sie kaltblütig zu entehren. Er hatte sie schändlich hintergangen. Er benutzte sie, um
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