Maskenball
Tränen. »Wissen Sie, ich kann hier noch nichts aufräumen oder Unterlagen suchen. Wenn ich das tue, dann ist mein Vater endgültig tot. Ich weiß, dass ich mich damit selbst belüge. Aber ich habe noch nicht die Kraft dazu, ein ganzes Leben einfach so wegzuräumen.«
»Ich kann Sie gut verstehen. Aber wir müssen uns Zimmer für Zimmer ansehen, vielleicht finden wir einen Hinweis, der uns weiter bringt. Es ist ja nicht auszuschließen, dass Ihr Vater seinen oder seine Mörder gekannt hat. Möglicherweise ist er ihm – oder ihnen – ja nicht erst an seinem Todestag begegnet; und nicht erst in Hardt, sondern schon hier in Breyell. Wir können derzeit nichts ausschließen.«
Hiltrud Claassen begann zu schluchzen. »Es tut mir leid, Herr Kommissar. Ich kann nicht. Bitte gehen Sie alleine durch die Zimmer. Ich bleibe hier sitzen, wenn Sie erlauben.«
»Bleiben Sie ruhig sitzen. Ich komme schon zurecht.« Frank sah sich zunächst im Wohnzimmer um, öffnete alle Türen der Schrankwand und zog hier und da eines der vielen Bücher hervor, um darin zu blättern. In den Regalen standen fast überwiegend deutsche Klassiker, dann Sammelbände eines Buchclubs, Bildbände, Biografien über Sänger, Reader’s-Digest-Ausgaben, ein paar wenige Hefte von Geo. In einer Schublade fand er bündelweise Notenmaterial, im Barfach standen eine angefangene Flasche Cognac und mehrere Gläser. Soweit passte alles in das Bild eines Mannes, der sich an seinem Lebensabend eingerichtet hatte.
Frank ging zurück in den Flur und von da aus erst ins Bad und dann ins Schlafzimmer. Alles wirkte ordentlich aufgeräumt, so als habe Hans-Georg Verhoeven seine Wohnung für einen Urlaub verlassen. In dem mit unmodernen altrosa Kacheln gefliesten Bad hingen zwei saubere Handtücher neben dem Waschbecken. Auf dem Rand der Badewanne stand eine Flasche mit Schaumbad. Frank schraubte den Verschluss auf und roch an der Öffnung. Er zuckte zurück, denn ihm drang der penetrante, herbe Geruch von Fichtennadelkonzentrat in die Nase. Als er das schmale fensterlose Bad verließ, fand er einen alten Bademantel, der an einem Haken hinter der Tür hing.
Auch im Schlafzimmer deutete nichts darauf hin, dass Verhoevens Leben in seinen letzten Tagen in Unordnung geraten sein könnte. Das Doppelbett war mit einer hellen Tagesdecke abgedeckt, die farblich zu dem Weiß der Schleiflackmöbel passte. Frank öffnete den Kleiderschrank und ließ seine Finger durch die wenigen Kleidungsstücke gleiten. Die Anzüge waren alt, aber von guter Qualität. Das Gleiche galt für Verhoevens Unterwäsche und Hemden. Der alte Mann hatte ohne Zweifel Wert auf sein Äußeres gelegt. Mit den Händen fühlte Frank vergeblich zwischen den Hemden, ob er eine versteckte Kassette oder Ähnliches finden würde. Er sah sich ein letztes Mal um und verließ dann seufzend den Raum.
Auch die kleine Küche war aufgeräumt. Die Einbauschränke musste Verhoeven von seinem Vormieter übernommen haben, denn sie waren deutlich älter als der Küchentisch, der mit einer Längsseite an die Wand geschoben war und drei Stühlen Platz bot. Frank öffnete die Schränke und Schubladen, fand aber nichts Auffälliges. In einem Wasserglas im Oberteil der Küchenzeile steckten Kleingeld und ein Zehn-Euro-Schein. Auf der Fensterbank stand ein altes Radio, das sicher noch aus den 60er Jahren stammte. Frank fuhr mit einem Finger über das aufgedruckte Furnierimitat und sah hinaus auf das Nachbargrundstück. »Frau Claassen? Können Sie bitte einmal in die Küche kommen?«
»Ja?« Hiltrud Claassen stand im Türrahmen und hatte ihre Hände in die Manteltaschen gesteckt. Sie sah aus, als ob sie frieren würde.
»Hatten Sie mir nicht von einem seltsamen Klopfen erzählt, das ihr Vater gehört haben will? Und von Kindern?«
»Ja, das ist richtig. Das hat mein Vater mir erzählt. Das war, kurz bevor er in die Klinik musste. Da sei so ein Klopfen gewesen, und ein Blitzlicht.«
»Die Wohnung ihres Vaters liegt im ersten Stock. Wie sollen da Kinder an das Schlafzimmerfenster geklopft haben?« Frank sah noch einmal aus dem Fenster auf das Nachbargrundstück. Dann ging er zurück ins Schlafzimmer und schob dort die dichte Gardine zurück. Verhoevens Küchenund Schlafzimmerfenster lagen über einem Garten. Frank öffnete das Fenster und sah hinunter. Unter ihm waren nur verwaiste Beete und ein Stück gefrorener Rasen zu sehen. Er wollte schon das Fenster wieder schließen, als sein Blick auf die Gartenmauer fiel, die an den
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