Maskenspiel
Bewerbungsunterlagen abhanden gekommen.«
»Bewerbungsunterlagen?«
»Helena hat sich auf eine Stelle in Hannover beworben. Eine richtige Professur. Sie hat hier ihre Unterlagen fertig gemacht und den Umschlag in das Postausgangsfach gelegt. Das war an einem Freitag. Allerdings fehlte noch ein Gutachten. Sie reichte es nach … und«, Fria griff wieder nach ihrem Hals, »dann sagten die in Hannover, eine Helena Jahns-Herzberg hätte sich gar nicht beworben.«
Ach du Schande, dachte Katinka.
Fria hob die Schultern. »Wir verstehen uns doch alle gut hier. Alle sind sehr nett. Wir haben unser Sommerfest im Hof draußen, wir machen jedes Jahr eine Weihnachtsfeier. Ich habe keinen Grund, anzunehmen, dass ein Kollege oder eine Kollegin …« Sie brach ab.
Friede, Freude, Eierkuchen, dachte Katinka entnervt. Alle sind ja so nett.
»Gibt es persönliche Freundschaften unter den Kollegen?«, fragte sie.
Fria legte den Kopf schief. »Wir arbeiten alle sehr viel«, sagte sie. »Es bleibt einfach wenig Zeit für ein Privatleben. Jeder von uns schreibt eine Qualifikationsarbeit. Das ist hart.«
»Verstehe ich Sie richtig? Alle Kollegen sind Ihnen gleich sympathisch?«
»Ja«, sagte Fria, und mit einem Mal kam sie Katinka sehr einfältig vor.
»Danke.«
Fria nickte und verließ das Büro.
Katinka stellte sich an das geöffnete Fenster. An dieser Seite des Gebäudes schien keine Sonne. Die Luft, die hereinwehte, war sehr kühl.
»Bonjour!«, rief eine dunkle Stimme. Ludovic Montfort marschierte forsch in sein Dienstzimmer und schloss rasch die Tür hinter sich. »Oder besser Grüß Gott! Ich lerne es schon noch!«
»Was?«, fragte Katinka, während sie auf sein schick geschnittenes, dichtes braunes Haar schaute und die schneeweißen Jeans bewunderte.
»Ihren Dialekt!«, lachte Ludovic. Zwischen seinen vorderen Schneidezähnen klaffte eine breite Lücke.
»Na ja, meiner ist es ohnehin nicht«, sagte Katinka. »Bitte, setzen Sie sich.« Sie kam sich ein wenig seltsam vor, Ludovic Montfort in seinem eigenen Büro einen Sitzplatz anzubieten, aber ihre Intuition riet ihr, auf alle Fälle die Oberhand während dieses Gespräches zu haben.
»Gern. Sie sind also nicht aus Bamberg? Von Bamberg, wie man hier sagt? Wissen Sie, ich habe im Deutschunterricht vor langer Zeit gelernt, ich komme aus Bamberg, München, Paris. Aber hier in dieser wunderschönen Stadt muss ich immer wieder hören, wie die gelernten Regeln mit Füßen getreten werden, ach was, einfach gar nicht gelten. Es gelten andere, verstehen Sie. Ganz andere. Wobei ich ja finde, dass …«
»Arbeiten Sie auch an dem romanischen Wortbildungsprojekt?«
»Aber sicher.« Ludovic Montfort ließ sich endlich dazu herab, einen Stuhl herbeizuziehen und sich zu setzen. »Ich bin die Kontrolle. Der Controller, wie sie so schön auf Englisch sagen. Irgendwie löst sich ja die deutsche Sprache allmählich auf, nicht wahr? So viel Englisch an allen Ecken und Enden. Ich meine …«
Katinka war an seiner Meinung wenig interessiert.
»Was machen Sie genau?«
»Ich gehe alle Dateien einmal die Woche durch und überprüfe die Ergebnisse, die neu hinzugekommen sind.«
»Sie sehen einfach nach, ob die Analysen zutreffend sind?«
»Richtig, Madame. Und dabei muss ich hinzufügen: Manche Sachverhalte sind so oder so zu interpretieren. Man kann dann nicht von richtig oder falsch sprechen … Es kommt eben darauf an, von welchem Standpunkt aus man interpretiert. Und ich kontrolliere«, er bleckte in gewinnbringender Absicht seine Zähne, »ob konsistent gearbeitet wird.«
»Erzählen Sie mal!«, bat Katinka, der plötzlich die Luft ausging. »Wie war das mit den Manipulationen?«
Montfort erging sich in Erklärungen. Auch er kannte das Programm gut genug, um sämtliche Daten auf einen veralteten Stand zu bringen.
»Um wie viele Wochen haben die Manipulationen Ihr Projekt schon zurückgeworfen?«, fragte sie, als Montfort geendet hatte.
»Ihr Projekt? O, Madame, Sie meinen, es handele sich um unser Projekt? Da muss ich Sie enttäuschen. Es ist ausschließlich das Projekt des Professors, müssen Sie wissen, und er wird niemals auch nur unsere Initialen auf den Buchdeckel schreiben, wenn die Ergebnisse in ferner Zukunft einmal publiziert werden. Irgendwo in einer Fußnote zum Vorwort, das sowieso niemand je liest, wird vorkommen, dass Ludovic Montfort und Fria Burgwart und Elfi Lodenscheidt und Ruth Lebewang und noch ein paar andere Leute ihr halbes Leben für diese Geschichte
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