Max Weber: Ein Leben zwischen den Epochen (German Edition)
gewaltigen Leidenschaft verbundene Askese jener Jahre» im weiteren Leben Goethes historisch wirksam geworden ist – und zwar «auch als er unter dem Himmel des Südens sich wandelte», wie Weber formuliert (bei dem Leidenschaft, Askese und Wandel im Süden eine etwas andere Dimension hatten). Doch selbst wenn diese vermutlich entsagungsvolle Begegnung Goethes mit Charlotte von Stein beider Leben später nicht beeinflusst hätte, so Weber, läge die Bedeutung dieses Erlebnisses womöglich darin, die «Lebensführung und Lebensauffassung» des Dichters zu exemplifizieren: Es könne dem Historiker immer noch als «Symptom» für die Zeit oder für Goethes Kreise erscheinen; dann wäre der «geistige Habitus jener Kreise» das kausal wirksame kulturgeschichtliche Moment. Und schließlich könnte es noch sein, dass selbst das nicht zutrifft und Erlebnisse wie diejenigen Goethes in vielen Kulturen oder sogar zu allen Zeiten gemacht werden. Dann könnte immerhin noch ein Kulturpsychologe etwas mit ihnen anfangen oder ein Nervenarzt und «sie als ‹idealtypisches› Beispiel für bestimmte asketische ‹Verirrungen› unter allerhand ‹nützlichen› Gesichtspunkten ebenso abhandeln». [282]
Dieser Gang durch die vier bis fünf Möglichkeiten, Goethes Liebesbriefe wissenschaftlich auszuwerten, ergibt für Weber aber noch einen zusätzlichen Sinn. Es sind die Briefe Goethes, und es sind Briefe, die, selbst wenn wir ihren Autor nicht kennten, Briefe einer bestimmten Qualität sind. Weber findet, man könne ihre Kombination aus Leidenschaft und Entsagung als Anhänger einer engen oder einer sehr weiten Sexualmoral ablehnen, aber das mache Interpretationen dieser Briefe selbst für solche Positionen nicht wertlos. Denn solche Interpretationen, die eine historisch verwirklichte Möglichkeit zeigen, wie ein Leben geführt werden konnte, können das eigene Leben «wertempfindlicher» machen.
Wir haben uns dieses Referat einer längeren Passage aus Webers Methodenschriften nicht nur erlaubt, weil es seine Denk- und Schreibweise zeigt, die stets bemüht ist, bloß keinen Unterfall dessen auszulassen, was er behandelt. Weber ist mit dem Begriff der «Wertempfindlichkeit» auch an einem Punkt angekommen, der für ihn die Grenze dessen bezeichnet, was geistes- und sozialwissenschaftlich möglich ist. Oder besser: der für ihn den eigentlichen Sinn seiner eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit bezeichnet. Die Befreiung, die es für ihn darstellte, sich über die methodischen Grundlagen seiner weiteren Arbeit klargeworden zu sein, war eine Befreiung durch das Gefühl, einen spezifischen Sinn für sie gefunden zu haben; in der Bewältigung historischer Stoffe oder dem Ermitteln historischer Regelmäßigkeiten, unabänderlicher Gesetze gar, konnte er diesen Sinn nicht mehr erkennen. Der Sinn seiner Arbeit sollte nun vielmehr sein, die Gegenwart durch die Analyse historischer Lebenserscheinungen und ihrer Bedeutung, durch Verstehen also, empfindsamer für die Relevanz menschlicher Werte zu machen, konkret: für die Gesichtspunkte und Ideen, denen der Leser in seiner eigenen Lebensführung folgt oder von denen er sich distanziert. Weber schreibt in einer Zeit, in der die alte Vorstellung erschüttert worden ist, die Geschichte – etwa der Antike, aber auch des Christentums oder der Nationen – könne als lehrreiches Beispiel dienen. Sie ist erschüttert worden durch das Gefühl, in einer Gesellschaft zu leben, die immer weniger mit allen vorhergehenden verbindet. Und durch Theorien, für die Geschichte auch beispielhaft war, die aber in gewaltiger Umwertung sagten: Sie ist ein Beispiel für das Negative, für Sinnlosigkeit, für zwanghafte Kausalabläufe, für blinde Evolution. Daraus ergibt sich folgerichtig ein nur berechnendes, auf Anpassung und Ausnutzung fokussiertes Leben. Max Weber widmet das Werk, das er nach seinem Zusammenbruch beginnt, dem Nachweis, dass das nicht die einzige Möglichkeit ist, sondern dass die «okzidentale» Kultur samt dem Kapitalismus und der Moderne, die sie hervorgebracht hat, etwas ist, das bestimmten Wertideen folgt und einen «Geist» hat. Oder dass man diese Kultur zumindest so für sich konstruieren kann, als ob sie einen solchen Geist hätte. Die Gründerfiguren des Kapitalismus, an deren idealtypischer Darstellung Weber arbeitet, während er seine Methodenlehre schreibt, sollten seine eigene, wertunempfindliche Gegenwart daran erinnern, dass es nicht Fatalismus, Eigennutz und Hedonismus waren,
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