Max Weber: Ein Leben zwischen den Epochen (German Edition)
Frage, welche Motive den frühneuzeitlichen Menschen dazu brachten, zu kapitalistischer Berufsarbeit überzugehen, tritt der Forscher an die historischen Quellen heran. Dieses Interesse selbst kann nicht wissenschaftlich begründet werden, und bezeichnenderweise setzt Weber das Wort «Objektivität» im wichtigsten Aufsatz seiner Krisenbewältigung in Anführungszeichen. Was er sich in seinen Aufsätzen aufwendig und angestrengt erkämpft, könnte man als
begrifflich kontrollierte Subjektivität
oder
subjektive Begriffskontrolle
bezeichnen. Worin aber liegt dann der Wert eines historisch einmaligen Phänomens, wenn sich daraus keine Gesetzmäßigkeiten ableiten lassen?
Weber illustriert seine Antwort an der These seines Kollegen, des Wissenschaftsphilosophen Heinrich Rickert, wonach die Weigerung Friedrich Wilhelms IV ., die ihm vom Paulskirchen-Parlament angetragene deutsche Kaiserkrone anzunehmen, ein historisches Ereignis war, der Schneider der königlichen Röcke hingegen historisch bedeutungslos sei. Dem hatte Eduard Meyer als Historiker widersprochen: Nur für die politische Geschichte sei der Schneider irrelevant, für andere historische Erkenntnisinteressen aber, etwa solche der Mode- oder der Handwerksgeschichte, sei er es womöglich nicht. [281] Für Weber lässt diese Antwort den grundsätzlichen Unterschied im Unklaren zwischen Ereignissen, die historisch bedeutsam sind, weil sie erhebliche Folgen zeitigten, und solchen, die es sind, weil sie Beispiel für etwas Typisches sind. Am Staat der Irokesen könne man eventuell Entscheidendes über Staatenbildung lernen, obwohl dieser Staat für die Weltgeschichte von ungemein geringer Bedeutung blieb. Dagegen wirkten sich manche Entschlüsse des Themistokles, des Siegers der Seeschlacht von Salamis gegen die Perser, zwar noch bis in die Gegenwart aus (Weber hat ein sehr weites Verständnis historischer Kausalketten und stellt sich vor, was alles anders gekommen wäre, hätten die Perser gesiegt), für die historische oder psychologische
Begriffsbildung
aber seien sie ganz bedeutungslos gewesen.
Die Irokesen kommen also der Soziologie des Staates zugute, die Befehle des griechischen Feldherrn werden in ihrem Folgenreichtum den Historikern überlassen. Für eine Geschichte der Mode wäre der Schneider Friedrich Wilhelms IV . darum vermutlich ebenfalls «von ganz geringer kausaler Bedeutung» – es sei denn, ausgerechnet dieser Schneider hätte etwas über den Körper des Königs hinaus Wirksames geschneidert. Als Erkenntnismittel für den Begriff der Mode um 1848 hingegen eignet sich der Rock unabhängig von seiner historischen Wirksamkeit.
Man sieht: Das Einmalige, die historischen Individuen um die es Weber geht, sind nicht nur und nicht in erster Linie Personen. Auch Städte, Befehle, Ehen, Texte, Kleider sind historische Individuen. Der Forscher, der sich nicht bloß dafür interessiert, wie sie zeitlich in der historischen Verkettung sozialer Ursachen verortet sind, entnimmt ihnen «typische» Züge und fragt, was an ihnen beispielhaft ist, worin gewissermaßen die Pointe ihrer Existenz liegt. Er konzentriert sich dabei aufgrund subjektiver Entscheidungen auf eben diese Merkmale und konstruiert daraus, was Weber einen «Idealtypus» nennt. Aus dem Staat der Irokesen oder anderer Stämme kann dann beispielsweise «der primitive Staat» werden – ja, «Staat» und «Stamm» sind selber Idealtypen. Oder es gehen Züge der irokesischen Herrschaftsform, die Häuptlinge und Magie voraussetzt, in den Idealtyp «Herrschaft durch Charisma» ein. Im Idealtyp sind Merkmale einer sozialen Tatsache aus ihrer empirischen Mischung mit allen anderen Merkmalen herausgelöst, um ein Erkenntnisinstrument zu gewinnen, mit dem Vergleiche angestellt werden können: Vergleiche mit anderen Staaten, mit staatenloser Herrschaft, mit Herrschaft ohne Magie und so weiter. Oder es werden idealtypische Entwicklungen konstruiert: Woran scheitern typischerweise Stammesgesellschaften, und in was transformieren sie sich dann? Oder: Was geschieht mit dem Schneiderhandwerk, wenn die Textilindustrie aufkommt?
Was an diesen uns heute vielleicht selbstverständlich erscheinenden Argumenten Webers alles hängt, wird erkennbar, wenn er sich an einer Stelle Goethe und dessen Briefwechsel mit der geliebten, aber (vermutlich) nicht eroberten Charlotte von Stein zuwendet. Warum sollte sich ein Literaturhistoriker dafür interessieren? Beispielsweise deshalb, weil die «mit einer unerhört
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